Die Kurzanleitung für künftiges Regieren hat fünf Unterpunkte, elf Seiten und genau 402 Zeilen. Darin ist das Ergebnis der Sondierungen von Union und SPD festgehalten. Es ist die Blaupause für die Koalitionsverhandlungen. In allen wichtigen Streitfragen, von den Finanzen über Migration bis zu Wirtschaft und Sozialem, rammt es schon einmal Pflöcke ein. Aber was erwartet das Land und seine Bürgerinnen und Bürger? Ein Überblick.
Migration
Im Wahlkampf war Migration das größte Reizthema; es gehörte laut Umfragen neben der Wirtschaft zu jenen Fragen, die die Deutschen am meisten beschäftigten. Das Sondierungspapier trägt diesem Umstand nun Rechnung: Vereinbart ist jetzt deutlich mehr Härte im Bereich Migration. Für CDU-Chef Friedrich Merz ist das ein Erfolg, er bekommt nun vieles von dem, was er im Wahlkampf angekündigt hat – zumindest auf dem Papier. Ohne dieses Ergebnis wäre es für Merz schwierig geworden, seine Partei von Koalitionsverhandlungen zu überzeugen. Zu sehr hatte die Partei vor der Wahl auf eine echte Wende beim Kampf gegen irreguläre Migration gedrungen.
Union und SPD setzen sich als Ziel, die Migration nicht mehr bloß zu steuern, sondern sie zu begrenzen. Das Ziel der „Begrenzung“ solle wieder ausdrücklich im Aufenthaltsgesetz stehen. Dazu soll es, wie von der Union im Wahlkampf gefordert, zu „Zurückweisungen“ an den deutschen Staatsgrenzen kommen. Merz hatte im Wahlkampf mehrmals betont, dass dieser Punkt für ihn nicht verhandelbar sei. Im Sondierungspapier finden sich dazu allerdings zwei Einschränkungen. Zum einen heißt es, man wolle „alle rechtsstaatlichen Maßnahmen ergreifen“, zum anderen sollen die Zurückweisungen „in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn“ erfolgen. Diese Präzisierungen tragen den Bedenken der SPD Rechnung: Sie hatte angezweifelt, dass die Zurückweisungen rechtlich möglich und so umzusetzen seien, dass dabei nicht die europäischen Nachbarn brüskiert würden. Tatsächlich lehnte Österreichs Regierung die Rückweisungspläne am Sonntag ab. Österreich werde abgewiesene Asylsuchende nicht annehmen, teilte das Innenministerium in Wien der Deutschen Presse-Agentur mit.
Weitere Verschärfungen sind geplant. Freiwillige Aufnahmeprogramme, etwa für Menschen aus Afghanistan, sollen enden. Wer nur subsidiären Schutz genießt, also kein Recht auf Asyl im engeren Sinne hat, soll keine Angehörigen mehr ins Land holen dürfen. Und es ist eine Rückführungsoffensive geplant; dabei soll die Bundespolizei die Kompetenz erhalten, „für ausreisepflichtige Ausländer vorübergehende Haft oder Ausreisegewahrsam zu beantragen, um ihre Abschiebung sicherzustellen“.
Die SPD hat allerdings jenseits aller Härte auch einige Botschaften untergebracht, die Ausländer wertschätzen. Der Staat soll etwa mehr in Integration investieren. Und das von der Ampelkoalition verabschiedete neue Staatsbürgerschaftsrecht soll nicht angetastet werden. Allerdings soll geprüft werden, ob sich Terroristen und Antisemiten die deutsche Staatsbürgerschaft wieder entziehen ließe.
Wirtschaft
Ehe andere Themen den Wahlkampf eroberten, war der maue Zustand der deutschen Wirtschaft das große Thema. Und er war es auch nun in den Sondierungen. Vor allem an die Energiekosten wollen Union und SPD ran. Um mindestens fünf Cent sollen die Strompreise sinken. Dazu soll die Stromsteuer auf das europäische Minimum sinken, was Verbraucher schon einmal um zwei Cent entlastet. Den Rest soll eine Halbierung der Netzentgelte bringen, über einen staatlichen Zuschuss. Vor allem die Industrie hatte über die hohen Strompreise geklagt, die geplante Absenkung käme aber allen zugute. Für eine Familie mit 3000 Kilowattstunden Jahresverbrauch wäre so eine Entlastung um 150 Euro drin.
Entlastungen planen die künftigen Partner auch an anderer Stelle. So soll eine Einkommensteuerreform „die breite Mittelschicht“ entlasten. Was das genau bedeutet, und wo diese breite Mittelschicht nach oben endet, wird sicher noch Gegenstand von Debatten. Die Pendlerpauschale soll steigen, die Mehrwertsteuer für Speisen in der Gastronomie auf sieben Prozent sinken – wie zuletzt in Corona-Zeiten. Auch Landwirte dürfen sich freuen: Sie tanken den Agrardiesel künftig wieder zum ermäßigten Steuersatz. Ein stärker ermäßigter Steuersatz auf Lebensmittel, wie die SPD ihn vorgeschlagen hatte, findet sich dagegen nicht in den Plänen.
An den Klimazielen würde eine künftige Koalition festhalten wollen. Auch die erneuerbaren Energien will sie „entschlossen und netzdienlich“ weiter ausbauen. Parallel ist eine Reserve aus Gaskraftwerken für Flautenzeiten angedacht. Ein Plan dafür soll rasch entstehen, ebenso für die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid, kurz CCS. Beides war mit dem Scheitern der Ampelkoalition liegen geblieben. Von einem Klimageld ist in dem Sondierungspapier nicht mehr die Rede, auch nicht von der Atomkraft. Dafür aber soll intensiv an einem Kernfusionsreaktor geforscht werden. Das ist zwar Zukunftsmusik pur, klingt aber modern.
Arbeit und Soziales
Bei der Vorstellung des Sondierungspapiers hatte Merz geschwärmt, es trage „unsere gemeinsame Handschrift“. Mit Blick auf die Vorhaben zu Arbeit und Sozialem würde wohl eher stimmen: beide Handschriften. Über den Mindestlohn etwa soll weiter „eine starke und unabhängige Mindestlohnkommission“ entscheiden, darauf pocht die Union. Gleichzeitig stellt die Einigung aber schon einen Stundenlohn von mindestens 15 Euro in Aussicht. Dafür hatte die SPD geworben. Sie konnte auch das Tariftreuegesetz unterbringen, mit dem sie in der Ampelkoalition gescheitert war.
Dagegen könnte beim Bürgergeld, ganz im Sinne der Union, künftig ein härterer Wind wehen. Wer arbeiten könne, aber wiederholt Jobs ausschlage, dem soll ein „vollständiger Leistungsentzug“ drohen. Gleichzeitig soll die Vermittlung in Arbeit gestärkt werden, auch durch mehr Qualifizierung. Wer schon einen Job hat, kann künftig vielleicht flexibler arbeiten. So soll es möglich werden, die Höchstarbeitszeit nicht mehr pro Tag, sondern pro Woche zu erfassen. Bei Überstunden sollen Zuschläge steuerfrei sein. Das soll die Anreize erhöhen, mehr zu arbeiten als tariflich vereinbart.
Auch bei der Rente ist für jeden Partner etwas dabei. Die CSU etwa kann sich darüber freuen, dass die Mütterrente ausgeweitet wird; das war ein Wahlversprechen. Die SPD hatte für ein stabiles Rentenniveau geworben und findet dies nun im Einigungspapier wieder, während die CDU die „Aktivrente“ dort verankern konnte: Sie soll Fachkräfte motivieren, auch nach dem Renteneintritt noch zu arbeiten – durch Steuervorteile. Ihre Idee einer „Frühstartrente“, mit der schon im Kindesalter Geld für die Rente angespart werden soll, wird zumindest erwähnt.
Finanzen
So viele Wünsche zu erfüllen, kostet viel Geld. Die Ausfälle durch den reduzierten Umsatzsteuersatz für die Gastronomie etwa hatte das Bundesfinanzministerium 2023 auf 3,4 Milliarden Euro taxiert. Die geplante Ausweitung der Mütterrente kostet nach Berechnungen der Rentenversicherung rund 4,45 Milliarden Euro im Jahr. In die Milliarden gehen auch die Absenkung der Stromsteuer und die Anhebung der Pendlerpauschale – sehr zum Ärger von Ökonomen, die lieber Reformen gesehen hätten statt neuer Schulden. Woher die Milliarden kommen sollen, dazu steht nichts im Papier.
Dafür beschreibt es noch einmal die Einigung, die Union und SPD schon vorige Woche gefasst hatten: Verteidigungsausgaben, die größer sind als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts, würden demnach künftig von der Schuldenbremse ausgenommen. Daneben soll ein Sondervermögen von 500 Milliarden Euro entstehen, vor allem für die Infrastruktur. Die nötigen Grundgesetzänderungen soll nun noch der alte Bundestag beschließen. Und dann?
Grüne vermuten, dass der 500-Milliarden-Topf am Ende auch für anderes hergenommen wird. Immerhin haben sich Union und SPD vorgenommen, bei Haushaltsberatungen „auch Einsparungen“ vorzunehmen. Auch sollen sich Bund, Länder und Kommunen einer „umfassenden Aufgaben- und Kostenkritik“ stellen. Nach Milliarden klingt das aber nicht.
Was noch?
Zumal es noch jede Mengen Posten gibt, die im Zuge der Koalitionsverhandlungen dazukommen könnten. So wollen Union und SPD eine große Pflegereform anstoßen, und auch auf dem flachen Land wird eine „bedarfsgerechte“ Versorgung mit Krankenhäusern in Aussicht gestellt. Die Bauwirtschaft soll angekurbelt werden, unter anderem durch mehr sozialen Wohnungsbau. Die Mietpreisbremse bleibt für zunächst zwei Jahre bestehen. Damit Kinder bessere Chancen schon von der Grundschule an haben, soll das 2023 beendete Bundesprogramm für Sprach-Kitas wieder anlaufen. Über die Fortsetzung des Deutschland-Tickets wolle man „beraten“.
Und dann noch in Zeile 402, ganz am Schluss, ein Herzensanliegen der CSU. Die hatte sich so sehr über die Änderung des Wahlrechts unter der Vorgängerregierung geärgert. „Wir prüfen eine erneute Reform des Wahlrechts“, steht da. Ganz sicher: An Gesprächsstoff für die kommenden Wochen mangelt es nicht.