DGB-Chef Hoffmann:Im Arbeitswahlkampf

DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann in Stolberg

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann (rechts) und Ralf Woelk, Regionsgeschäftsführer der Gewerkschaft in Nordrhein-Westfalen, unterhalten sich vor einem Geschäft im rheinischen Stolberg, das die Flut zerstört hat.

(Foto: Marius Becker/dpa)

Wenn es um Jobs geht, kann sich Reiner Hoffmann in Rage reden. Auf Tour mit einem Gewerkschafter, der manchmal fast so argumentiert wie der Kanzlerkandidat der Union.

Von Christian Wernicke, Düsseldorf

Plötzlich steht alles auf dem Spiel. Alles auf einmal: die Jobs drüben im Stahlwerk, die Wahlen und die nächste Regierung in Berlin, ja sogar die Zukunft des halben Kontinents - alles, so scheint es, entscheidet sich hier und jetzt.

Hier, das ist der lange, hellhölzerne Konferenztisch im Saal des Aufsichtsrats von Thyssenkrupp, an dem Reiner Hoffmann, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), mit dem Betriebsrat "die Lage" berät. Seit einer knappen Stunde hört Deutschlands oberster Gewerkschafter, wie "die große Transformation" gelingen kann: Also der Umbau des Duisburger Werks zu einem klimaneutralen Koloss, der fortan ganz ohne Kohle Millionen Tonnen "grünen Stahls" produziert und kaum noch CO2 ausstößt.

Zwischendrin jedoch hört Hoffmann Ungeduld, Zweifel, sogar leise Angst um die 14 000 Arbeitsplätze auf der anderen Straßenseite. Die Technologie - Wasserstoff statt Kohle - sei zwar da, "wir haben den Impfstoff", sagt ein IG-Metaller, "aber das kann nicht gelingen ohne Milliarden-Hilfe des Staats." Genau da gärt es: Die Politik zaudere, die Zeit laufe davon, und niemand wisse, was komme, nach den Wahlen.

Das ist der Moment, da Reiner Hoffmann, diesem allzeit umgänglichen Zeitgenossen, der Kragen platzt. Genau jetzt.

Der Wahlkampf - für ihn eine einzige Enttäuschung

Hoffmann schlägt mit der linken Hand auf den Tisch. Der DGB-Chef, ein überzeugter Europäer, wittert plötzlich den Zerfall der EU. "So was wie den Brexit will ich nicht noch mal erleben," raunzt der 66-Jährige im feinen, taubenblauen Anzug. Hoffmann erinnert sich, wer da auf der Insel gegen die kontinentale Integration gestimmt hatte - die einfachen Leute, die Malocher, die sich vom Establishment verraten fühlten. Hoffmann ist empört, sein linkes Knie wippt wild.

Wenn die Politik jetzt nicht handle, wenn die nächste Bundesregierung nicht mit Milliarden-Investitionen massiv nachhelfe bei Energiewende und Neuanfang - ja was dann? "Wir dürfen die Demokratie nicht zum Abschuss freigeben", sagt Hoffmann, "das entscheidet sich an jedem industriellen Standort in Europa."

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Das ist sein Thema, seit seinem Amtsantritt vor sieben Jahren: "Die Leute wollen von der Politik nicht ihre Probleme beschrieben bekommen", sagt Hoffmann später leise im Gespräch, "sie wollen Lösungen." Gemessen daran sei der Bundestagswahlkampf bislang eine einzige Enttäuschung: "Wir stehen vor riesigen Herausforderungen, aber die Parteien verheddern sich im Klein-Klein."

Drei Tage nahm sich Hoffmann diese Woche Zeit, um sich ein eigenes Bild zu machen. Eine solche "Sommertour" in die Wirklichkeit macht der DGB-Chef seit sieben Jahren, "das gibt mir Bodenhaftung". 2021 ist seine letzte Runde, nächsten Mai hört er auf.

Modernisierung - "das geht nur mit einem handlungsfähigen Staat"

Vielleicht deshalb suchte der gebürtige Wuppertaler die Wirklichkeit diesmal in seiner Heimat Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, von dem es heißt, es sei im Kleinen ein Spiegelbild der großen Republik. Klimawandel, marode Infrastruktur, Ausbeutung, Katastrophenhilfe - alles dabei. Und alles bringt Hoffmann, seit 1972 SPD-Mitglied und Gewerkschafter, auf einen Nenner: "Modernisierung, das geht nur mit einem handlungsfähigen Staat."

In Stolberg bei Aachen fangen sie gerade bei Null an. Am Abend des 14. Juli, als der seichte Vichtbach plötzlich zum reißenden Strom anschwoll und im engen Tal eine Fabrikhalle nach der anderen flutete, da wähnten sich viele hier am Ende. "Aber am nächsten Morgen haben die Kollegen die Schippe in die Hand genommen und angefangen, den Schlamm aus ihren Betrieben zu schaufeln", erzählt Patrick Haas, der Bürgermeister, auch von der SPD. Im Bleiwerk, im Glaswerk, auch bei "Kerpen Datacom" sei das so gewesen, dem neuen Kabelhersteller, der von den knapp 400 Mitarbeitern im alten Leoni-Werk nur 160 Kollegen übernehmen konnte: "Alle waren dabei", sagt Haas, "auch die, bei denen zu Hause die Kündigung auf dem Tisch lag."

Anfangs ging die Sorge um, die Betriebe würden abwandern und Stolberg als Industrie-Ruine zurücklassen. "Inzwischen sagen fast alle großen Firmen, dass sie bleiben", berichtet der Bürgermeister. Der Rundgang im Niesel - "Viele von uns fühlen sich neuerdings bei Regen nicht wohl" - führt vorbei an Sperrmüllhaufen und noch immer zerborstenen Schaufenstern. Aber immerhin, wo vor drei Wochen metertiefe Krater in der Straße klafften, schimmern nun schwarze Asphaltflecken.

Auf einer schmalen Brücke kommen Haas und Hoffmann ins Gespräch. Unten plätschert der Vichtbach, während dem Bürgermeister Pläne durch den Kopf schießen: "Wir können die Stadt ja nicht wiederaufbauen wie bisher", sagt er, "wir müssen uns anpassen." Oberhalb der Stadt muss er den Bauern wohl abringen, ihre Äcker und Wiesen bei Hochwasser künftig überfluten zu lassen. "Und hier im Tal müssen wir vielleicht anordnen, dass Häuser direkt am Fluss ihre Fenster im Erdgeschoss zumauern. Das zu erklären wird nicht einfach."

Zwänge zum Umdenken sieht der DGB-Chef überall

Hoffmann nickt. Solcherlei Zwänge zum Umdenken und Umbau macht der DGB-Chef überall aus. Auch bei der nächsten Station, auf der Großbaustelle zwischen Leverkusen und Köln, wo am Rheinufer inzwischen die ersten Pfeiler für die neue Autobahnbrücke in den Himmel ragen. "Sie sind ein wenig zu früh", ruft ihm Jan Felgendreher zu, der Projektleiter von Hochtief, "im Moment laufen die Hauptarbeiten noch in der Planung." Die Stahlarbeiten für den Brückenschlag beginnen erst im Herbst

Zu früh? Hoffmann grinst. Bereits 2012 entdecken Prüfer die ersten Risse im Bauwerk, seither ist die Brücke für Lkw über 3,5 Tonnen gesperrt. Jetzt, neun Jahre später, hofft die bundeseigene Autobahn GmbH, die erste von zwei neuen Brücken im November 2023 eröffnen zu können. Derweil explodierten die Baukosten um mehr als 50 Prozent. "Diese Baustelle ist ein Symbol für die Defizite der Infrastruktur in der ganzen Republik", sagt Hoffmann.

Sein früherer Widerpart Dieter Kempf, der damalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) sprach im Herbst 2019 gar vom "Schnarchland Deutschland". Gemeinsam forderten DGB und BDI damals jährlich zusätzliche 45 Milliarden Euro für öffentliche Investitionen - und zwar zehn Jahre lang. Hoffmanns Genosse Olaf Scholz, damals nur Finanzminister und noch nicht SPD-Kanzlerkandidat, zeigte sich wenig amüsiert. Und winkte ab.

Als DGB-Chef ist Hoffmann ein General ohne eigene Truppen: Allein die acht Mitgliedsgewerkschaften entscheiden, ob sie in einen Arbeitskampf ziehen oder nicht. Und doch gibt es Unternehmen, die den Vorsitzenden von 5,8 Millionen Arbeitnehmern aufs Allerherzlichste umgarnen. Die Zukunft der Alu-Hütte bei Neuss zum Beispiel, gerade von einem US-Finanzinvestor aufgekauft, steht oder fällt mit einem Preis - dem Strompreis. Über den entscheidet die Politik - und Hoffmann hat Einfluss, in Berlin wie in Brüssel. Samt Walz- und Veredelungswerk nebenan stehen 5000 Jobs auf dem Spiel - falls die Bundesregierung verlangen würde, dass die Hütte fortan die volle C02-Abgabe zu zählen hätte. Bisher tut Berlin das Gegenteil: 90 Prozent er Abgabe werden dem Werk erstattet, was die Energierechnung in Neuss ungefähr halbiert.

Rolf Langhard, der graubärtige Betriebsratschef, preist Hoffmann denn auch als "einen großen Lobbyisten" der Hütte. Der DGB-Chef dankt ("Macht weiter so!") und erklärt, warum er trotz Klimaschutz die stromfressende Aluminiumproduktion befürwortet: "Wir wollen auch Arbeitsplätze und Wertschöpfung." Und verglichen mit China sei die größte deutsche Alu-Hütte regelrecht klimafreundlich: In Fernost steigen pro Kilogramm produziertem Aluminium circa 20 Kilogramm CO2 in die Atmosphäre, in Neuss seien es nur 8,5 Kilo. Armin Laschet, der NRW-Ministerpräsident und schwarze Kanzlerkandidat, würde genauso argumentieren.

Hoffmann ist ein Roter, kein Grüner

Hoffmann ist kein Grüner. Sondern ein Roter. Vergangenen Samstag war er kurz in Bochum, für ein Grußwort beim Wahlkampf-Auftakt von Olaf Scholz und seiner SPD. Keine direkte Wahlempfehlung, das ginge zu weit. Aber eben doch eine Geste.

Auch hoch oben in der elften Etage von Thyssenkrupp, bei seinem Zornesausbruch über schillernd grünen Stahl und eine elendig matte Politik, hat Hoffmann die Linie gehalten: "Der DGB ist parteipolitisch unabhängig", sagt er da, "aber nicht politisch neutral." Man könne ja lesen. Aber so schwer sei die Sache eigentlich eh nicht. Zur Rettung des Stahlstandorts Deutschland helfe "keine Schuldenbremse, keine Steuerentlastung für Superreiche".

Sondern? Hoffmann grinst. Deutschland müsse jetzt kämpfen für eine klimafreundliche Industrie, daheim und in Europa. Da bleibe letztlich die Frage: "Wer hat dazu den Arsch in der Hose?"

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