Viele sind in Schwarz gekommen, wie zu einer Beerdigung. Während der Gedenkminute herrscht Totenstille im Plenarsaal, zwei Abgeordnete wischen sich Tränen von den Wangen. Eine Woche nach dem Terroranschlag von Solingen wagt Nordrhein-Westfalens Landtag eine erste Debatte über die Tat – und darüber, was nun die Lehre sein müsse aus dem, was Ministerpräsident Hendrik Wüst Minuten später „einen Wendepunkt“ fürs Land, für die Republik nennen wird: „Es gibt eine Zeit vor Solingen, und es gibt eine Zeit nach Solingen.“
Reden über das Unsägliche, sprechen über Unsagbares – über Leid, das sich kaum in Worte fassen lässt: drei Tote, acht Schwerverletzte, unzählige Zeugen mit Bildern der Nacht vor Augen. Auf der Zuhörertribüne sitzen drei Dutzend meist junge Retter und Helfer, die am 23. August am Tatort waren.
Der Regierungschef klagt über die „vermeintliche Freiheit im digitalen Raum“
Den Anfang versucht der Regierungschef. Der Anschlag werde „Narben in unserer Gesellschaft bilden“, sagt der CDU-Mann. Der Staat, die Politik müsse jetzt Konsequenzen ziehen – und, wie er es formuliert, „das Problem bei der Wurzel packen“. Also? „Wir müssen die irreguläre Migration nach Deutschland beenden.“ Wüst wiederholt seine alte Forderung, Asylverfahren außerhalb der EU zu etablieren. Und er verlangt, was Sicherheitsexperten noch länger fordern: mehr Rechte für Polizei und Nachrichtendienste, etwa islamistische Netzwerke auszuspähen. Da stehe zu oft der Datenschutz im Weg, der sichere „eine vermeintliche Freiheit im digitalen Raum“. Und das verhindere, „dass wir unsere Freiheit im echten Leben“ wirksam schützen. Nötig sei „eine neue Balance“. Wie genau er die austarieren will, lässt Wüst am Freitag offen.
Die Opposition im Landtag wird Wüst später vorhalten, er habe „wieder mal“ nur Ideen präsentiert, für die die Bundespolitik verantwortlich sei. Die Ampel in Berlin also. „Der Ministerpräsident hat keinen einzigen Vorschlag in Landeszuständigkeit gemacht“, bemängelt etwa Hennig Höne, der FDP-Fraktionschef. Wie der Liberale attackiert auch Jochen Ott, SPD-Fraktionsvorsitzender, die NRW-Ministerin für Flucht und Integration, die Grüne Josefine Paul. Deren Behörden hätten es versäumt, den Täter von Solingen rechtzeitig nach Bulgarien abzuschieben. Ott bezweifelt, dass Paul sich in ihrer inzwischen zweijährigen Amtszeit in der schwarz-grünen NRW-Koalition überhaupt je um Rückführungen gekümmert habe.
Tatsächlich sind seit dem Wochenende mehrere Pannen bekannt geworden, die den NRW-Behörden beim Versuch der Rückführung des Syrers Issa al-H. unterliefen. Wüst räumte am Freitag „Versäumnisse“ ein, nahm seine Ministerin aber sonst in Schutz. Paul beklagte am Freitag erneut das in Europa so „dysfunktionale System“ für solcherlei Überstellungen in andere EU-Staaten – was ihr und Wüst prompt die nächste Attacke von Ott bescherte: „Wenn es ein dysfunktionales System gibt, Herr Ministerpräsident, dann in Ihrer Regierung!“
Allmählich kehrte die Sondersitzung des Landtags da zurück zu ihren eher alltäglichen Ritualen: Polemik, Parteienstreit. SPD-Mann Ott legte noch einen drauf, als er den CDU-Chef Friedrich Merz für seine Aussage geißelte, eine nationale „Notlage“ auszurufen. Wer wie Merz „von einem außer Kontrolle geratenen Land schwadroniert, betreibt das Geschäft der Terroristen!“. Die CDU verlangte umgehend eine Entschuldigung. Die meisten Zuhörer aus Solingen waren da bereits gegangen.