Nordrhein-Westfalens Fluchtministerin Josefine Paul (Grüne) hat am Mittwoch in einem Sachstandsbericht neue, zum Teil brisante Erkenntnisse über den mutmaßlichen Attentäter von Solingen mitgeteilt. So habe sich Issa al-H. im April 2023 sechs Tage lang aus seiner Notunterkunft in Paderborn entfernt – die zuständige Notunterkunft versäumte es jedoch vorschriftswidrig, dies der zuständigen Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) in Bielefeld zu melden.
Wäre die ZAB informiert worden, so hätte diese Absenz im April zwei Monate später vielleicht Folgen gehabt: Am 5. Juni 2023 wollten die Behörden den Syrer frühmorgens abholen und nach Bulgarien ausfliegen. Aber die ZAB verzichtete darauf, den Mann zum Aufenthalt auf seinem Zimmer zu verpflichten – und so trafen ihn die Polizisten nicht an.
Der Attentäter hätte nicht mehr hier sein dürfen, heißt es immer wieder
Paul sah sich im Integrationsausschuss des NRW-Parlaments scharfen Fragen ausgesetzt. Die SPD-Abgeordnete Lisa Kapteinat nannte die neue Information „potenziell dramatisch“. Ministerin Paul steht wegen der verbockten Abschiebung des mutmaßlichen syrischen IS-Terroristen nach Bulgarien zunehmend unter Druck. Inzwischen variieren Politiker wie Medien immer wieder einen Halbsatz: Dieser Attentäter „hätte nicht mehr in Deutschland sein dürfen“. So hat es auch Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) gesagt, der am Freitag im Landtag „Versäumnisse“ eingeräumt hatte. Der Vorwurf des staatlichen Organisationsversagens steht im Raum – und Paul droht, zum Gesicht dieses Versagens zu werden.
Seit voriger Woche beklagt auch die grüne Ministerin ein „dysfunktionales System“ bei Abschiebungen oder bei sogenannten „Rückführungen“. Dieser Begriff meint Überstellungen in ein anderes EU-Land etwa dann, wenn – wie im Fall von Issa al-H. – ein Asylbewerber vor seiner Einreise nach Deutschland bereits in einem anderen EU-Staat wie Bulgarien registriert worden war.
Die „Versäumnisse“ bei der gescheiterten Überführung des mutmaßlichen Islamisten unterliefen allesamt Behörden, die Pauls Ministerium unterstehen. Die 42-jährige Grüne trägt zumindest politisch eine Verantwortung. Fragen nach ihrem Rücktritt weist sie bisher zurück; jetzt sei es Zeit, „Sachverhalte aufzuklären“.
Mindestens zwei Vorwürfen sieht sich Paul ausgesetzt. Die ZAB in Bielefeld wollte den 26-jährigen Syrer frühmorgens um 2.30 Uhr am 5. Juni 2023 aus seiner Not-Unterkunft abholen, traf ihn aber nicht an. Die Verhängung einer sogenannten „Nachtzeitverordnung“ hätte Issa al-H. gezwungen, auf seinem Zimmer zu bleiben.
In Pauls Ministerium mangele es an Expertise und Engagement, so der Vorwurf
Und selbst wenn er dies nicht getan hätte, hätte die Zwangsmaßnahme Folgen gehabt: Der nachweisliche Nachtarrest hätte juristisch bewirkt, dass die sechsmonatige Frist zur Überstellung nach Bulgarien sich auf 18 Monate verlängert hätte. So aber verstrich die Frist zur Rückführung nach Bulgarien. Beide Behörden, die Landes-Notunterkunft in Paderborn sowie die ZAB unter „Sonderaufsicht“ des Landes, gehören zum Verantwortungsbereich von Pauls Ministerium.
Der zweite Vorwurf zielt auf Pauls Ministerium selbst. Denn das zuständige Referat in ihrem Düsseldorfer Haus unternahm 2023 offenbar keine Versuche, einen zweiten Flugtermin für eine Überstellung des Syrers zu ergattern – und so verstrich am 20. August 2023 die sechsmonatige Frist, innerhalb der Bulgarien den Geflüchteten zurückgenommen hätte.
Pauls Haus wirkt überfordert: Kürzlich wurde bekannt, dass eine fürs „Rückkehrmanagement“ zuständige Mitarbeiterin sich erst vorige Woche in E-Mails an die Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) nach den genauen Regeln für Überstellungen nach Bulgarien erkundigte. Alles nach Solingen – und eine Stunde vor einem Pressetermin der Ministerin.
Die Opposition im NRW-Landtag hegt schon länger den Verdacht, Paul interessiere sich recht wenig für die Abteilungen Flucht und Integration in ihrem Misch-Ministerium: „Diesen Bereich hat sie immer vernachlässigt“, glaubt die SPD-Abgeordnete Kapteinat. Die grüne Ministerin hatte sich vorher über Jahre vor allem als engagierte Kinder-, Jugend- und Familienpolitikerin Respekt verschafft. Migration war ihr Thema nicht. Ihr Staatssekretär und Parteifreund Lorenz Bahr ist Experte für Jugend- und Familienpolitik.