Solidaritätsaktion:Stimme zu verschenken

Solidaritätsaktion: Luisa Seelbach wird am Sonntag bei jener Partei ihr Kreuz, die die Interessen des Spaniers Joan Marc Simon am besten vertritt. Beide machen beim Projekt "Electoral Rebellion" mit.

Luisa Seelbach wird am Sonntag bei jener Partei ihr Kreuz, die die Interessen des Spaniers Joan Marc Simon am besten vertritt. Beide machen beim Projekt "Electoral Rebellion" mit.

(Foto: Quelle: Facebook)

Deutschland bestimmt maßgeblich, was in der Euro-Krise passiert. Warum sollen also nicht Griechen, Iren und Italiener mitentscheiden, wer hier regiert? Nach dieser Logik leihen junge Deutsche am Sonntag ihre Stimme an Menschen aus anderen Ländern aus. Eine Teilnehmerin erklärt, wieso sie einen Spanier entscheiden lässt, wo sie ihr Kreuz machen wird.

Von Lilith Volkert

Ganz Europa blickt am Sonntagabend nach Deutschland und wartet gespannt auf das Ergebnis der Bundestagswahl. Den Menschen in allen EU-Ländern ist klar: Wer künftig in Berlin regiert, trifft Entscheidungen, die auch sie betreffen (Stichwort: Euro-Schuldenkrise).

Eine Berliner Initiative möchte ein Zeichen der Solidarität setzen und sucht deutsche Wähler, die bereit sind, ihre Stimme an Ausländer weiterzugeben. Technisch läuft das so: Man telefoniert zusammen, geht dann mit dem Wunsch des Anderen in die Wahlkabine und macht dort sein Kreuz. Ähnliche Projekte fanden bereits 2010 in Großbritannien und 2013 in Israel statt. Eine der deutschen Teilnehmerinnen ist die 28-jährige Luisa Seelbach. Die Vikarin wohnt im hessischen Seligenstadt.

SZ.de: Sie wollen am Sonntag Ihre Stimme verschenken und das wählen, was Ihnen ein anderer sagt. Haben Sie keine eigene Meinung?

Luisa Seelbach: Im Gegenteil, ich habe eine starke Meinung. Aber ich stelle sie bewusst zurück. Meine Stimme schenke ich jemandem, der vom Ausgang der Wahl ähnlich betroffen ist wie ich, aber nicht wählen darf, weil er kein Deutscher ist.

Wer darf Ihre Stimme vergeben?

Joan Marc Simon, ein 38-jähriger Spanier. Ich habe ihn über die Facebook-Seite "Electoral Rebellion" kennen gelernt. Dort können Deutsche ihre Stimme Leuten aus anderen Ländern anbieten, mit denen sie sich solidarisch zeigen wollen.

Wen werden Sie für ihn wählen?

Das sage ich nicht - Wahlgeheimnis. Das habe ich ihm versprochen. Nur so viel: Er findet es gut, dass er jene zur Verantwortung ziehen kann, die in der Euro-Schuldenkrise über Spanien entscheiden. Und ihm war wichtig, dass die Partei der Demokratisierung internationaler Entscheidungsprozesse offen gegenübersteht.

Kennt Herr Simon sich denn in der deutschen Politik aus?

Er hatte sich gut informiert, ich würde sogar sagen, er wusste mehr als so mancher Deutscher. Wir haben eine halbe Stunde am Telefon über deutsche Politik geredet. Die Partei, für die er sich letztendlich entschieden hat, hat sich schon mal mit der Weiterführung der demokratischen Idee beschäftigt. Und sie setzt sich für den Klimaschutz ein, das hat ihm auch gefallen.

Angenommen, Ihr Stimmpartner hätte eine Partei unterstützen wollen, die Ihrer eigenen Einstellung widerspricht. Was hätten Sie getan?

Ich hätte sie trotzdem gewählt. Ich hatte mir vorher vorgenommen, nichts auszuschließen. Wenn ich bei dieser Aktion mitmache, dann richtig. Allerdings hat sich meine Annahme bestätigt, dass der Beschenkte sich nicht für eine demokratiefeindliche Partei entscheiden würde - schließlich wollen wir uns mit der Aktion gemeinsam für das demokratische Prinzip stark machen.

Tut es Ihnen nicht weh, auf ihr Stimmrecht zu verzichten?

Doch, es tut mir sehr weh. Wählen gehen zu können ist für mich ein wichtiges, ein unbezahlbares Grundrecht. Aber es tut mir noch mehr weh, dass ich größeren Einfluss habe als andere, die gleichermaßen von internationalen Entscheidungen betroffen sind - nur weil ich Bürgerin eines Staates bin, der auf der Weltbühne so viel Macht besitzt.

Müsste demnach nicht die ganze Welt den amerikanischen Präsidenten wählen, weil alle von seiner Politik betroffen sind?

Mir wäre viel lieber, dass Demokratie nicht an Staatsgrenzen endet. Entscheidungen sollten auf der Ebene getroffen werden, auf der die Menschen davon betroffen sind. Der Klimawandel etwa betrifft die Menschen weltweit, also muss man auch auf globaler Ebene eine Lösung dafür finden, die demokratisch legitimiert ist

Wie könnte so eine grenzenlose Demokratie aussehen?

Ein Parlament auf der Ebene der Vereinten Nationen wäre eine realistische Möglichkeit: Keine Generalversammlung der Staaten wie bisher, sondern ein von den Bürgern gewähltes Organ. Auch deshalb verschenke ich meine Stimme - weil ich für die politische Gleichheit aller Menschen demonstrieren möchte.

Linktipp: Mitte September widmete sich die Europa-Beilage der Süddeutschen Zeitung, die in Kooperation mit fünf europäischen Zeitungen entsteht, den Erwartungen der EU-Partner an die Bundestagswahl. Alle Artikel sind auf dieser Übersichtsseite nachzulesen.

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