Snowdens Asylantrag in Russland:Zuflucht im Land der Flüchtenden

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Zuflucht Moskau: Mit seinem Asylantrag in Russland schwimmt der Amerikaner Edward Snowden eher gegen den Strom (Foto: dpa-tmn)

Während Edward Snowden Asyl in Russland will, möchten Millionen Russen genau dort nicht mehr leben. Allein in diesem Jahr sind schon fast 10.000 nach Deutschland gekommen - mehr als aus jedem anderen Land. Doch warum denkt knapp ein Viertel der Russen darüber nach, ihr Land zu verlassen?

Ein Kommentar von Daniel Brössler, Berlin

Mit seinem Asylantrag in Russland schwimmt der Amerikaner Edward Snowden, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, eher gegen den Strom. Nach einer gerade vom Bundesinnenministerium veröffentlichten Statistik haben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 9 957 Bürger Russlands Asyl allein in Deutschland beantragt. Russen stellen damit neuerdings die größte Gruppe der Asylsuchenden. Vieles spricht dagegen, dass ausgerechnet Russland im Fall Snowden moralisches Kapital erwirtschaften kann - auch diese Zahl.

Auf seiner Flucht vor Strafverfolgung ist der Enthüller vermutlich gigantischer US-Spähprogramme in mehrfacher Hinsicht in einer grotesken Falle gelandet. Seine Gastgeber, die Snowden als "neuen Dissidenten" preisen, haben die Überwachung ihrer Bürger in den vergangenen Jahren eifrig perfektioniert. Präsident Wladimir Putin, ein früherer KGB-Mann, hat seine Macht stets auch auf die Geheimdienste gestützt. An Snowdens Enthüllungen dürfte Putin weniger interessieren, welche Rechte die Amerikaner da verletzten, sondern wie sie das anstellten. Mit Snowdens Asylbegehren verhält es sich ein wenig so, als hätte sich in den 80er-Jahren ein Gegner der westdeutschen Volkszählung in die Arme der Stasi gestürzt.

Wegen eines grenzenlos erscheinenden amerikanischen Überwachungsdrangs, aber vor allem auch in Ermangelung honoriger Asylgeber und eines sicheren Fluchtwegs ist Snowden zum traurigen Helden jener Geschichte geworden, die die Moskauer Machthaber am liebsten erzählen. Jener nämlich, dass es im Westen nicht wirklich besser bestellt ist um die Bürgerrechte und folglich jegliche Kritik an Russland nur politischem Kalkül folgt und einzig dem einen Ziel dient, einen Konkurrenten zu schwächen. In diesem kleinen kalten Krieg sucht Putin nicht unbedingt jeden Ärger mit den USA, aber er nimmt es doch ganz gerne in Kauf, wenn sie sich ärgern.

Mit der Wirklichkeit hat das alles nichts zu tun. Russland ist kein Zufluchtsort, sondern ein Staat, den immer mehr Menschen verlassen. Jene Bürger Russlands, die neuerdings in großer Anzahl Asyl in Deutschland beantragen, stammen überwiegend aus Tschetschenien und anderen Teilrepubliken im Kaukasus. Sie sind geflohen vor Gewalt und Terror und einer Staatsmacht, die sie entweder nicht zu schützen in der Lage ist, oder von der sie sich verfolgt fühlen. Das Chaos im Kaukasus hat in Deutschland zuletzt wenig Beachtung gefunden, was es Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich nun erleichtert, den Pauschalverdacht wirtschaftlicher Motive zu streuen.

Noch gravierender aber ist eine andere Fluchtbewegung. Aus Russland fliehe nicht nur das Kapital, sondern auch der beste Teil der Bevölkerung, hat der Schriftsteller Wladimir Sorokin kürzlich beklagt. Immer mehr Russen sehen angesichts stickiger Stagnation keine Zukunft mehr für sich in ihrer Heimat. Einer Umfrage zufolge denkt ein knappes Viertel der Bevölkerung über Emigration nach. Das ist Putins Problem. Snowdens ist es nicht.

© SZ vom 17.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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