Süddeutsche Zeitung

Sir Nicholas Winton:Wie Tschechien einen 105-jährigen Judenretter würdigt

  • Der tschechische Präsident Miloš Zeman würdigt den 105-jährigen Nicholas Winton für die Rettung jüdischer Kinder vor den Deutschen.
  • Der Börsenmakler brachte vor dem Zweiten Weltkrieg 669 Kinder mit acht Zügen nach London.
  • Winton schwieg über Jahrzehnte über seine Heldentaten.

Tschechischer Präsident würdigt 105-jährigen Judenretter

Für einen 105-Jährigen ist eine Reise von Maidenhead bei London nach Prag keine Kleinigkeit mehr. Doch Sir Nicholas Winton hat in seinem Leben schon ganz anderes geleistet. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs organisierte der Brite Züge für jüdische Kinder aus Prag nach Großbritannien. Mehr als 600 von ihnen rettete er damit vor dem Holocaust.

Dafür zeichnete ihn der tschechische Präsident Miloš Zeman am Dienstag mit der höchsten Auszeichnung seines Landes aus - dem Orden des Weißen Löwen. "Es gibt ein tschechisches Sprichwort: Besser jetzt, als nie", sagte Zeman und entschuldigte sich für die späte Ehrung.

Bei der bewegenden Zeremonie im Thronsaal der Prager Burg waren auch sieben der damaligen Kinder dabei. "Ich bin froh, dass so viele von ihnen heute unter uns sind", sagte ein sichtlich gerührter Winton. Schüler hielten Kinderfotos der Geretteten hoch.

Winton dankte allen, die damals bei der Rettungsaktion geholfen hatten. Das Problem sei gewesen, dass nur wenige Länder, darunter Großbritannien, unbegleitete Kinder aufnehmen wollten. "Viele Politiker begriffen nicht, was auf dem Kontinent geschah", sagte Winton über die Phase vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen begann.

Winton war im Dezember 1938 auf dem Weg in den Skiurlaub, als ihn ein Hilferuf aus Prag erreichte. Spontan entschloss er sich, zu helfen. Er trieb die Garantiesumme von 50 Pfund pro Kind auf - heute wären das rund 3500 Euro. Der Börsenmakler suchte unermüdlich Pflegefamilien in Großbritannien. "Wenn es nicht unmöglich ist, dann gibt es einen Weg", wurde zu seinem Lebensmotto.

Die Tschechoslowakei war auf Betreiben von Nazi-Deutschland nach dem Münchner Abkommen vom Herbst 1938 auf einen Rumpfstaat um die Hauptstadt Prag herum geschrumpft (hier mehr dazu). Nach der von NS-Diktator Adolf Hitler befohlenen "Zerschlagung der Rest-Tschechei" marschierte die deutsche Wehrmacht Mitte März 1939 in Prag ein. Die Nazis errichteten ein brutales Besatzungsregime und nannten Tschechien nurmehr "Böhmen und Mähren".

Winton rettete 669 Kinder mit acht Zügen

Winton machte trotz der deutschen Invasion weiter. Acht Züge mit 669 tschechischen Kindern erreichten sicher London. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs duldete das Nazi-Regime die Transporte. Doch der letzte und größte Zug durfte Prag am Tag des Kriegsbeginns nicht mehr verlassen. Heute geht man davon aus, dass die meisten der 250 Kinder an Bord im Konzentrationslager starben.

Winton kam als Sohn der Eheleute Wertheimer zur Welt, zwei Jahre nachdem das Paar aus Deutschland nach Großbritannien ausgewandert war. Die Eltern waren vom Judentum zum Christentum konvertiert und änderten in der neuen Heimat ihren Nachnamen in Winton. Nicholas Winton arbeitete für verschiedene Bankhäuser, als er zum Kinderretter wurde. Über sein Engagement machte er jahrzehntelang kein Aufhebens. Erst im Jahr 1988 brachte eine Fernsehsendung ehemalige Kinder aus den Zügen mit dem stets bescheidenen Winton zusammen. Es war ein bewegendes Wiedersehen. Winton, der sich selbst als "mehr tatterig als alt" beschreibt, hält bis heute Kontakt zu vielen von ihnen.

Winton schwieg jahrzehntelang über seine Heldentaten

In Tschechien gilt der Brite als Held, als "britischer Oskar Schindler" - der deutsche Industrielle Schindler hatte etwa tausend Juden vor dem Holocaust gerettet.

Über seine Verdienste hatte Winton 50 Jahre lang geschwiegen, bevor seine Frau im Dachboden auf historische Belege stieß. Für seine Taten wurde er 2003 zum Ritter geschlagen.

Präsident Zeman lobte Wintons Lebensgeschichte als Beispiel für Menschlichkeit und persönlichen Mut. Als ein "Zeichen der Demut" setzte sich das Staatsoberhaupt spontan über alle protokollarischen Regeln hinweg: Zum Abschluss der feierlichen Zeremonie schob er Winton im Rollstuhl selbst aus dem Saal.

Auf die anstrengende Reise an den Schicksalsort Prag hatte man den 105-Jährigen mit einem kleinen Versprechen locken müssen. Aus diplomatischen Kreisen hieß es, der begeisterte Flieger habe ausnahmsweise das Cockpit des tschechischen Regierungsjets besuchen dürfen. Zum Abschluss seines Kurzbesuchs wollte Winton dann noch einmal das Hotel Europa, seine Unterkunft vor 75 Jahren, sehen - und ein böhmisches Bier trinken, wie sein Gastgeber Zeman verriet.

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