Süddeutsche Zeitung

Sinti und Roma:Störung am Sarg eines Volkes

Im Berliner Tiergarten können Sinti und Roma ihrer von den Nazis ermordeten Vorfahren gedenken. Doch das Mahnmal ist durch den Bau einer neuen S-Bahn-Linie gefährdet.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Mulno. Für dieses Wort in Romanes, der Sprache der Sinti und Roma, gibt es keine passende deutsche Übersetzung, sagt Daniel Strauß: "Es ist mehr als nur ein Erbe. Es ist heilig, unantastbar." Er steht auf dem Gelände des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Berliner Tiergarten, hinter den Bäumen ragt der Reichstag auf. Regen fällt auf den kreisrunden See, das Wasser schimmert dunkel über der Granitplatte, die den See einfasst. Eine Geigen-Komposition des Sinto-Musikers Romeo Franz erklingt. Entworfen hat das Denkmal der in Israel geborene Künstler Dani Karavan.

Genau dieses Erbe, das für ihn mehr ist als ein Erbe, sieht Strauß nun in Gefahr. In Berlin soll eine S-Bahnlinie entstehen, die den Hauptbahnhof mit dem Potsdamer Platz verbindet. Die Bauarbeiten, so befürchten es Vertreter der Sinti und Roma, würden das Denkmal massiv beeinträchtigen. Denn die müssten nach den Plänen dort stattfinden, wo das Mahnmal steht.

1982 wurden die NS-Verbrechen an Sinti und Roma als Völkermord anerkannt

Daniel Strauß will das verhindern. Er ist Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg und hat mehrere Bildungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Initiativen mitbegründet. Er hat nun gemeinsam mit anderen Bürgerrechtlern und Initiativen ein Aktionsbündnis ins Leben gerufen: "Unser Denkmal ist unantastbar!" Politikerinnen wie Rita Süssmuth und Doris Schröder-Köpf unterstützen den Aufruf. Mitte Juni demonstrierten einige Hundert Menschen in Berlin für seinen Erhalt.

Auch der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma war entsetzt, als er von den Plänen für die Baustelle erfuhr. Davon erzählt der wissenschaftliche Leiter des Zentralrats, Herbert Heuß, am Telefon. Ende Januar, Anfang Februar habe der Zentralrat das erste Mal von dem geplanten S-Bahntunnel gehört. Das Denkmal, hieß es damals, müsse abmontiert werden. Der Zentralrat erfuhr das nicht von der Bahn, sondern von der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas", die auch das Mahnmal der Sinti und Roma unterhält: "Wir fanden es unglaublich, dass die Bahn nicht einmal mit uns das Gespräch gesucht hat."

Von den ursprünglichen Plänen ist die Bahn nach Protesten abgerückt. Die Baugrube sollte nun neben das Wasserbecken. "Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma wird nicht angetastet", sagt der Konzernbevollmächtigte der Deutschen Bahn, Alexander Kaczmarek. Auch diesen Plan findet der Zentralrat aber problematisch. Zum Mahnmal gehöre nicht nur das Wasserbecken, sondern ebenso das umliegende Gelände. "Direkt auf einer Baustelle kann kein würdiges Gedenken stattfinden", sagt Heuß.

Inzwischen ist der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma an den Gesprächen zum Projekt beteiligt - und zeigt sich kompromissbereit. Wenn sich eine Beeinträchtigung des Ortes nicht vermeiden ließe, dann müsse das kompensiert werden. Wichtig sei, dass ein würdiges Gedenken weiterhin stattfinden könne.

Die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, die Bauherrin des S-Bahnprojekts, betont, dass es intensive und konstruktive Gespräche gebe. Die Planung sei noch in einem sehr frühen Stadium: "Ziel bleibt es, die Lösung zu finden, die das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas maximal schützt." Unter anderem werde nun geprüft, ob die S-Bahn nicht an anderer Stelle errichtet werden kann. Das ist allerdings gar nicht so einfach. Einen ursprünglich geplanten anderen Verlauf der S-Bahn hatte der Bund schon abgelehnt, weil er zu nah am Reichstag vorbeiführe.

Der Vorsitzende der Bau- und Raumkommission des Bundestags-Ältestenrates, Wolfgang Kubicki (FDP), warf Senat und Deutscher Bahn am Freitag zwar mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Sinti und Roma vor.

Die Kommission blieb aber bei ihrer Skepsis gegenüber alternativen Trassen. Daniel Strauß und die Mitglieder des Aktionsbündnisses wollen auf keinen Fall Kompromisse eingehen. "Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Bedeutung dieses Mahnmal für die Sinti und Roma nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa hat", sagt er. Das zeigt seine eigene Geschichte. Daniel Strauß wurde 1965 geboren. Sein Vater hat Auschwitz überlebt, aber ein großer Teil seiner Familie ist in den Vernichtungslagern gestorben. Auch nach dem Krieg seien Vorurteile gegen Sinti und Roma noch weit verbreitet gewesen, sagt Strauß. Ihre Deportation habe bei vielen Deutschen als legitime Präventionsmaßnahme gegolten, weil Sinti und Roma als Kriminelle stigmatisiert waren. Erst 1982 hat der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die Verbrechen der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma als Völkermord anerkannt. Bis sie ein Mahnmal bekamen, dauerte es noch einmal dreißig Jahre.

Daniel Strauß:

"Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Bedeutung dieses Mahnmal für die Sinti und Roma nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa hat."

"Unsere ganze Generation ist ohne Großeltern aufgewachsen", sagt Strauß. Vielen Nachkommen der von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma sei nicht ein einziges Bild ihrer Verwandten geblieben. Strauß berichtet auch von der großen Bedeutung, die Beerdigungen in der Tradition der Minderheit haben. Hunderte Menschen kämen, um Verstorbenen Respekt zu zollen. "Und niemand geht, bevor der Sarg zu ist", sagt er. Die Verwandten der im Nationalsozialismus Ermordeten hätten hingegen keine Gräber, die sie besuchen könnten. Das Mahnmal ist für sie die lange vermisste Grabstätte, an der sie ihrer Vorfahren gedenken können. "Nach der Eröffnung hatte ich das Gefühl: Der Sarg ist zu", sagt Strauß.

Für viele Sinti und Roma ist die Gedenkstätte außerdem ein Zeichen, dass ihre Geschichte nun als ein Teil der deutschen Geschichte gilt - und nicht mehr als etwas, das Fremden widerfahren ist. "Ich dachte, dass wir nun alle gemeinsam in die Zukunft blicken können, uns Themen wie Bildung und dem interkulturellen Dialog widmen", sagt Strauß.

Jetzt hat er das Gefühl, dass er sich getäuscht hat, ein Gefühl, das viele seiner Unterstützer teilen: "Es war für die Sinti und Roma in Deutschland wie ein Schlag ins Gesicht." Ihr wollt Gedenken? Ja, aber nur solange es nicht im Weg steht. Die Proteste gegen die Bauarbeiten aber sieht das Aktionsbündnis als ein Zeichen: Die Zeiten, in denen über Sinti und Roma einfach so hinweggegangen werden konnte, sind vorbei.

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Quelle:
SZ vom 04.07.2020
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