Süddeutsche Zeitung

Das Politische Buch:Das verleugnete Verbrechen

Lesezeit: 3 Min.

Von Tim B. Müller

Der "vergessene Holocaust" - so nannte Zoni Weisz, der 2011 als erster Sinto am 27. Januar vor dem Bundestag sprach, den Völkermord an den Sinti und Roma Europas. Seine Rede und 2012 die Einweihung des Denkmals für die Ermordeten stehen für die späte Anerkennung dieser Geschichte durch die Bundesrepublik. Aber die deutsche Gesellschaft hatte den nationalsozialistischen Völkermord nicht einfach vergessen. Sie verweigerte der seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Minderheit dessen Anerkennung mit Absicht.

Der Historiker Sebastian Lotto-Kusche spricht im Untertitel seiner Studie vom "langen Weg zur Anerkennung". Im Kern geht es um den zähen Prozess, in dem gegen alle Widerstände diese vier Sätze sagbar und schließlich zur Selbstverständlichkeit wurden, die Helmut Schmidt nach dem ersten Treffen eines Bundeskanzlers mit Vertretern von Sinti und Roma am 17. März 1982 in einer Presseerklärung verlautbaren ließ: "Den Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Viele von ihnen wurden ermordet. Diese Verbrechen sind als Völkermord anzusehen." Der Regierungschef der Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches erkannte dessen Verbrechen an den Sinti und Roma endlich öffentlich an.

Völkermord? Auf keinen Fall, hieß es in der frühen BRD

NS-Völkermord an den Sinti und Roma? Genau das hatten nach 1945 all die Expertinnen und Experten (unter ihnen Wissenschaftlerinnen und Sozialarbeiterinnen) geleugnet, die in Kriminalpolizei und Behörden, von den Kirchen und der Bundesregierung zum Thema "Zigeuner" angehört wurden. Das Wissen dieser Fachleute stammte vielfach noch von der "Rassenhygienischen Forschungsstelle", deren Gutachten der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zugrunde lagen. Die NS-Maßnahmen seien "kriminalpräventiv" gewesen, rassistische Verfolgung oder gar einen Völkermord habe es nicht gegeben - das ließ sich nicht nur lange behaupten, das war der vorherrschende "Denkstil", wie Lotto-Kusche mit Bezug auf den Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck es nennt, bis in die 1970er-Jahre. Ein Tiefpunkt war die ungehemmt rassistische Argumentation des Bundesgerichtshofs, der 1956 Sinti und Roma im Grunde die Schuld an ihrer eigenen Verfolgung zuwies.

Die Konturen dieser Geschichte sind bekannt. Lotto-Kusche schreibt diese nicht neu, aber es gelingt ihm, Akzente zu setzen, die die etablierte Erzählung vom "langen Weg zur Anerkennung" differenzieren. Sorgfältige Kontextualisierung führt dazu, dass neue Akteure außerhalb der bekannten Kreise der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma und ihrer zivilgesellschaftlichen Bundesgenossen in den Blick rücken.

Eine kleine Sensation ist der Nachweis, dass innerhalb der Bundesministerien schon lange vor Helmut Schmidts öffentlichem Bekenntnis 1982 - nämlich seit dem Bundesentschädigungsgesetz-Schlussgesetz von 1965 - die Rechtsauffassung bestand, dass an Sinti und Roma ein rassistisch motivierter Völkermord verübt worden war. Nur hatten die Opfer zumeist nichts davon, weil ihnen "willkürliche Antragsfristen" und "behördliche Schikanen" im Weg standen - sofern permanente Ausgrenzung den wenigen Überlebenden nicht schon zuvor den Mut geraubt hatte, den Kampf mit den staatlichen Stellen und deren "Zigeunerexperten" aufzunehmen. Dem mächtigen Netzwerk um Hermann Arnold, der die Arbeit und Thesen der NS-Rassenforschung fortführte und zum wichtigsten Berater des für die Minderheit zuständigen Bundesfamilienministeriums avancierte, widmet Lotto-Kusche so erhellende wie erschreckende Kapitel.

Neuland betritt der Autor an anderer Stelle. Den prominenten Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegung, von denen einige über Jahrzehnte das Bild prägten, stellt er Menschen aus dem Innern der Machtapparate gegenüber, die in Politik und Verwaltung die Chancen schufen, die von Sinti und Roma ergriffen wurden. In den 1950er-Jahren gehörte dazu der heute vergessene CDU-Politiker Franz Böhm, der dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus angehört hatte, für die deutsch-israelische Verständigung und das Entschädigungsrecht Großes bewirkte und 1958 gegen den NS-geprägten, "kriminalpräventiven" Diskurs der Ministerien, Politiker und Experten vehement erklärte, dass Sinti und Roma "die einzigen waren, die neben den Juden in die sogenannte Endlösung, d. h. in das totale Vernichtungs- und Austilgungsprogramm einbezogen worden sind". Fritz Bauer und weitere Namen sind hier zu nennen, in der Geschichtswissenschaft vor allem Michael Zimmermann.

Ein Ministerialbeamter als heimlicher Held

Der heimliche Held des Buchs ist vielleicht der Ministerialbeamte Gerhard Konow. Ohne diesen Abteilungsleiter im Kanzleramt, später Kanzleramtschef und Senator in Berlin, wäre es nie zu dem symbolpolitischen Wendepunkt des Treffens zwischen Helmut Schmidt und dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 1982 gekommen. Der Zentralrat hatte sich erst wenige Wochen zuvor - etwas zugespitzt auf der Grundlage der vorgetragenen Befunde formuliert: eigens für dieses Treffen - als Dachverband mit restriktiven inneren Strukturen gebildet, um gegenüber der Politik mit einer Stimme sprechen zu können. Doch weder dieser Schritt noch das in den 1970er-Jahren wachsende Wissen über den Völkermord hätten ausgereicht, um die Begegnung zu eröffnen.

Der politische Beamte Konow nahm schon 1979 den Forderungskatalog, das berühmte "Memorandum", des Verbands deutscher Sinti persönlich zur Kenntnis. Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an: Ein NS-geprägter Fachbeamter im Familienministerium verhinderte, dass Vertreter der Sinti das Memorandum dem Bundeskanzler übergeben konnten. So landete es bei Konow. Der machte sich fortan die Sache der Sinti und Roma zu eigen, brach die Dominanz der vom antiziganistischen Denkstil geprägten Fachleute des Familienministeriums in der Regierung und setzte das Thema auf die Agenda des Bundeskanzlers. Der Rest der Geschichte ist bekannt.

Dieses Beispiel zeigt, dass Lotto-Kusche, ohne die Geschichte grundlegend umzuschreiben, mit klugen Ergänzungen und trotz gelegentlich anachronistisch-moralisierender Untertöne etwas Bedeutendes gelingt: Er holt die Minderheit aus den marginalisierten Zonen der Minderheitengeschichte heraus, er schreibt Sinti und Roma in den historischen Mainstream der alten Bundesrepublik ein, in die Macht- und Wissenskämpfe nach 1945. Damit ist der lange Weg zur Anerkennung des Völkermords an sein Ziel gekommen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen für 0,99 € zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5736850
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.