Süddeutsche Zeitung

Minderheiten:Experten fordern mehr Schutz für Sinti und Roma

Die Angehörigen dieser Gruppe werden in Deutschland immer noch diskriminiert. Nun empfehlen die Fachleute dem Bundestag, was er dagegen tun kann. Innenminister Seehofer ist einverstanden - nur einen Schritt lehnt er ab.

Von Jan Bielicki

Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat eine künftige Bundesregierung und den Bundestag zum ausdauernden Kampf gegen Rechtsextremismus und Antiziganismus aufgerufen. Die Bekämpfung von Rassismus - gerade auch gegen Sinti und Roma - sei "gesellschaftspolitisch neben dem Schutz der Bevölkerung der wichtigste Bereich" seines Ministeriums. Leider wende man sich diesen Themen meist erst dann zu, "wenn etwas passiert", sagte Seehofer, "ich würde mir wünschen, dass wir es zum Dauerthema machen."

Gemeinsam mit Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, stellte der Innenminister am Dienstag in Berlin den Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus vor. Auf 500 Seiten hat das von der schwarz-roten Koalition eingesetzte Expertengremium darin das ganze Spektrum der vergangenen Verfolgung und fortbestehenden Diskriminierung von Sinti und Roma in Deutschland ausgebreitet.

Ausführlich beschreiben die Fachleute darin, wie Angehörige der Volksgruppe immer noch alltäglich Rassismus erleben - am Arbeitsplatz und auf Wohnungssuche, in Schulen und Behörden, durch Sozialarbeiter, Ärzte und Medien. Die Kommission erwähnt öffentlich sichtbare Fälle von Antiziganismus, die sich in den zwei Jahren ihrer Arbeit zutrugen. Dazu zählen das Abführen eines elfjährigen Kindes in Handschellen in Hamburg, Pläne für einen S-Bahn-Tunnel in Berlin, der das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas beeinträchtigen könnte, und der rassistisch motivierte Anschlag von Hanau im Februar 2020. Unter den neun Opfern in Hanau waren die Roma Mercedes Kierpacz, Vili Viorel Păun und Kaloyan Velkov.

"Wie ein roter Faden" zögen sich die Nachwirkungen des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma durch die Geschichte der Bundesrepublik, schreiben die Experten - vor allem deswegen, weil eine Anerkennung der erlittenen Verfolgung über Jahrzehnte ausblieb und die Stigmatisierung der Minderheit durch Staat und Gesellschaft andauerte.

Die Experten halten einen "grundlegenden Perspektivwechsel" für notwendig

Die Kommission fordert nun einen "grundlegenden Perspektivwechsel in der Gesellschaft" und eine "Politik der nachholenden Gerechtigkeit". Konkret empfiehlt sie, einen Bundesbeauftragten gegen Antiziganismus und eine Bund-Länder-Kommission einzusetzen. Darüber hinaus sollte ein Gremium das Unrecht der "zweiten Verfolgung" der Sinti und Roma in der Bundesrepublik beleuchten. Zudem verlangt das Gremium, den nationalsozialistischen Genozid "umfassend" anzuerkennen.

Seehofer äußerte für diese Forderungen "hohe Sympathie". Schon Ende Juni hatten sich Abgeordnete aller demokratischen Fraktionen in einer Bundestagsdebatte hinter den Bericht gestellt. Allein die AfD wollte sich nicht anschließen.

Eine Empfehlung stieß bei CDU und CSU jedoch auf Widerspruch: Die Fachleute wollen, dass aus dem Balkan zugewanderte Roma als besonders schutzbedürftig anerkannt und ihre Heimatländer nicht länger als "sichere Herkunftsländer" eingestuft werden. Das würde Roma den Zugang zu Asyl erleichtern und sie vor Abschiebung schützen. Einen solchen Schritt aber lehnte Seehofer ab.

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