Ai Weiwei, 51, ist nicht nur einer der kreativsten und am teuersten gehandelten modernen Künstler Chinas. Der Co-Designer des Pekinger Olympiastadions ist auch auf dem besten Weg, zu einer Art öffentlichen Gewissens seines Landes zu werden. Sein Blog gehört zu den populärsten Internetadressen in der Volksrepublik. Ai Weiwei nutzt ihn, um der Regierung immer wieder unbequeme Fragen zu stellen.
SZ: Sie haben begonnen, die Namen der bei dem Erdbeben in Sichuan ums Leben gekommenen Schulkinder zu veröffentlichen. Warum?
Ai Weiwei: Am 12. Mai liegt dieses Erdbeben ein Jahr zurück. Ich habe einige einfache Fragen gestellt. Wie viele Schulkinder sind ums Leben gekommen? Wo sind sie gestorben? Wer waren diese Menschen? Dies sind grundlegende Fakten einer Naturkatastrophe, und die Regierung eines Landes hat die Verantwortung, sie zu beantworten. Aber ich habe keine Antwort bekommen, weder vom Erziehungsministerium, noch vom Innenministerium oder anderen chinesischen Behörden.
SZ: Und nun wollen Sie diese Fragen selbst beantworten?
Ai: Richtig. Ich war selbst im Erdbebengebiet. Viele Schulen, wie etwa die Juyuan-Mittelschule, sind eingestürzt, aber die Wohnhäuser und Regierungsgebäude ringsum stehen noch. Vielerorts sind nur die Schulen eingestürzt. Dieses Problem der sogenannten Tofu-Schulen, dieser unsicher gebauten Häuser, wird nicht dauerhaft vertuscht werden können. Mit mehr als 200 Freiwilligen sind wir nun dabei, die Eltern aufzusuchen und die Namen der Kinder zu sammeln.
SZ: Der Regierung gefällt so etwas gar nicht. Erst kürzlich ist eine chinesische Journalistin in Chengdu geschlagen und tagelang eingesperrt worden, weil sie einen Dokumentarfilm über die verstorbenen Schulkinder drehen wollte.
Ai: Es ist in der Tat sehr schwierig und gefährlich. Die Polizei in Dujiangyan hat eines unserer Videos konfisziert. Neulich ist einer unserer Freiwilligen festgenommen und erst nach einer Nacht wieder freigelassen worden. Wir warnen alle Helfer im Voraus, und sie sind sich der Gefahr bewusst.
SZ: Auch die Eltern der toten Kinder werden eingeschüchtert.
Ai: Das ist das Schlimmste. Viele der Angehörigen sind festgenommen und gewarnt worden, dass sie ihre Arbeit verlieren werden, wenn sie öffentlich über das Problem der Tofu-Schulen reden. Eine Mutter aus Beichuan schickte mir eine E-mail. Sie schrieb: "Mein Kind ist gerade gestorben, und jetzt hat mir die Regierung mitgeteilt, dass uns die fünf Yuan Kindergeld für Ein-Kind-Familien gestrichen werden." Diese Menschen werden nicht fair behandelt. Es ist wichtig, ihnen eine Stimme zu geben.
SZ: Warum ist die Regierung eigentlich so nervös? Schon am Tag nach dem Beben standen die Eltern der Kinder neben den Ruinen und redeten darüber, welcher korrupte Beamte und welcher Bauherr den Baustahl für die Schulen zur persönlichen Bereicherung veruntreut hat. Ist das nicht alles ein offenes Geheimnis?
Ai: All diese Schulen sind hastig im Zuge der neuen Erziehungspolitik gebaut worden, die neun Jahre Schulpflicht vorschreibt. Nicht nur in Sichuan, in ganz China stehen solche Tofu-Schulen. Das ist es, was sie vor allem vertuschen wollen.
SZ: Sie wurden mangelhaft gebaut, nur um den Vollzug einer neuen Direktive aus Peking melden zu können?
Ai: Ja. Es war ein politischer Fehler beim Umsetzen der neunjährigen Schulpflicht. Wer übernimmt nun die Verantwortung? Es ist jedenfalls nicht allein die Schuld korrupter Bauunternehmer, dass bei diesem Beben so viele Kinder gestorben sind.
SZ: Auf Ihrem Blog hatten Sie bis letzte Woche 4192 Namen von Kindern veröffentlicht. Ist diese Liste komplett?
Ai: Niemand weiß genau, wie viele Schulkinder gestorben sind. Manche sprechen von 6000, die Regierung behauptet "weniger als 10000", manche Schätzungen reden sogar von 19000 Kindern. Egal wie viele es sind, auf jeden Fall sind wir noch weit von einer kompletten Liste entfernt.
SZ: Und wie viele Schulen sind eingestürzt? Wir wissen, dass es mehrere Tausend waren, aber nirgends ist eine Aufstellung zu finden.
Ai: Es ist sehr interessant. Sie haben jetzt sogar begonnen, viele Schulen abzureißen, die bei dem Erdbeben überhaupt nicht beschädigt worden sind. Es soll keinen Vergleich mehr geben.
SZ: Und das Andenken an die Kinder soll gemeinsam mit den alten Schulen verschwinden?
Ai: Deshalb ist die Namensliste so wichtig. Wenn von diesen Kindern nur eine Zahl übrigbleibt, werden wir nie herausfinden, wer wo gestorben ist und warum. Mehr als die Hälfte der Eltern wissen nicht einmal, wo ihre Kinder begraben sind. Sie haben die Leichen nicht gesehen und leiden darunter bis heute. Die Leichen der Schulkinder wurden einfach abtransportiert. Die Krankenhäuser sagen, sie hätten sie nie bestattet. Wo genau sind diese Kinder geblieben?
SZ: Schwer vorstellbar, dass eine Regierung solche Fragen einfach ignorieren kann...
Ai: Die Regierung ist nur an neuen Bauarbeiten interessiert. So können sich korrupte Beamte in den kommenden Jahren an den riesigen Summen von Spendengeldern aus aller Welt bereichern.
SZ: Vieles von dem, was Sie da tun, wäre eigentlich die Arbeit der Medien.
Ai: Es ist ganz einfach. Es gibt in China keine Medien. Es gibt mutige Journalisten, die investigativ arbeiten, aber sie haben keine Kanäle zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse. Nur ganz selten werden Artikel veröffentlicht, bevor die Zensoren einschreiten können. Deshalb ist in China das Internet so wichtig.
SZ: Die Zensoren haben aber letzte Woche die Namensliste der gestorbenen Schulkinder aus Ihrem Blog gelöscht. War die ganze Arbeit nun umsonst?
Ai: Nein, wir machen weiter. Unsere Freiwilligen sind weiter im Erdbebengebiet unterwegs. Wenn einer von ihnen festgenommen wird, sind am nächsten Tag zehn neue Freiwillige am selben Ort.
SZ: Interessanterweise hatten viele Chinesen den Eindruck, dass die Regierung gut und schnell auf das Erdbeben reagiert hat. Auch im Ausland entstand dieser Eindruck. Ministerpräsident Wen Jiabao zum Beispiel war sehr schnell in das Katastrophengebiet gereist.
Ai: Ja, dass Wen selbst an den Ort der Katastrophe gereist ist, hat viele Menschen tief beeindruckt. Aber er hat dort nicht die Realität gesehen. Er besuchte beispielsweise eine Schule. Vor seinem Eintreffen bedeckten die örtlichen Beamten die Kinderleichen auf dem Schulhof mit einer Plastikplane. Als Wen auf die Plastikplane zeigte, sagten sie ihm: "Hier züchten wir Pilze." SZ: Sie sind Künstler. Was hat das alles mit Kunst zu tun?
Ai: In den vergangenen drei Jahren habe ich mich intensiv um Chinas soziale Probleme gekümmert. Ich frage mich ständig, wie ich als Künstler eine neue Sprache für meine Arbeit finden kann. Wir hatten zunächst mit einem Dokumentarfilm über die Tofu-Schulen in Sichuan begonnen. Das Thema wird auch in einer Ausstellung vorkommen, die ich für Oktober im Haus der Kunst in München vorbereite. Und letztlich geht es auch um meine persönliche Verantwortung als chinesischer Bürger. Wenn Kunst nichts mit dem Leben zu tun hat, dann brauchen wir keine Kunst.