Sicherungsverwahrung:"Der Kopf ist schon in der Freiheit"

Am Mittwoch entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Sicherungsverwahrung. Einer der vier Kläger ist Karl Berger, 56 Jahre alt, davon 30 Jahre hinter Gittern - verurteilt unter anderem wegen Einbruch, Vergewaltigung und Drogenmissbrauch. Ein Besuch bei einem Gefangenen, der bald frei sein wird.

Sebastian Beck

Bevor das Gespräch beginnt, gibt der Vollzugsbeamte dem Besucher noch einen kleinen Wink: Dort hinten an der Wand ist der Alarmknopf, nur so zur Sicherheit, also für den absolut unwahrscheinlichen Fall der Fälle, sollte die Unterhaltung aus dem Ruder laufen. Dann bezieht er draußen auf dem Flur Stellung. Schon geht die Tür auf, Karl Berger (Name von der Redaktion geändert) wird in den Raum geführt: ein kräftiger Mann, graues Haar, blaues T-Shirt, die üblichen Knast-Tätowierungen an den Unterarmen.

EGMR rügt Sicherungsverwahrung in Deutschland

Berger ist einer von vier Klägern, die vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe Beschwerde gegen ihre Sicherungsverwahrung eingelegt haben.

(Foto: dpa)

Sein Gesichtsausdruck wirkt hart, Gefühle zeigt er nur spärlich. In seinem Leben gab es wenig zu lachen für Berger und die Menschen, die es mit ihm zu tun hatten. Die Vergangenheit unterteilt er selbst in "sinnlose Chaosjahre" oder "Leck-mich-am-Arsch-Zeiten". Die Zukunft aber, die ihm noch bleibt, die soll anders werden. Ganz bestimmt.

Gut eineinhalb Stunden lang erläutert Berger seinem Besucher, warum vor ihm niemand Angst haben muss, wenn im Juni sein Traum in Erfüllung geht: Er wird entlassen - nach 15 Jahren Haft und Sicherungsverwahrung im niederbayerischen Straubing. "Der Kopf ist schon in der Freiheit", sagt Berger, "ich will was Positives draus machen."

Er erzählt konzentriert, selbst mit schwierigen juristischen Fragen kennt er sich mittlerweile aus. Wenn er sich in seiner Zelle die Fernsehnachrichten ansieht, dann ist neuerdings auch von ihm die Rede, zumindest indirekt. Denn Berger ist einer von vier Klägern, die vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe Beschwerde gegen ihre Sicherungsverwahrung eingelegt haben.

Kriminelle Fixpunkte einer Biographie

Wie lange er schon hinter Gittern sitzt, weiß er selbst nicht mehr genau. Er ist jetzt 56 Jahre alt, davon verbrachte er "über den Daumen gepeilt" 30 Jahre in Haft. Als Maschinenschlosser hat er es versucht, als Gebäudereiniger, als Installateur, doch im bürgerlichen Leben konnte er nie Fuß fassen. Die Freiheit bestand für Berger aus Episoden zwischen Knastaufenthalten.

Ein paar Ereignisse gibt es jedoch, die sich in sein Gedächtnis eingebrannt haben und nicht im Durcheinander seiner Biographie untergingen: Das Jahr 1975 zum Beispiel, als er in Landsberg zum ersten Mal eine Jugendstrafe von einem Jahr und neun Monaten antreten musste, nachdem er unter anderem in ein Modehaus eingebrochen war. Es war der Auftakt zu seiner Karriere als Krimineller. Er hatte LSD genommen, als er das Schaufenster einschlug. Eine planlose Aktion sei das gewesen. Heute könne er das nicht mehr nachvollziehen - wie so vieles, was danach passierte.

Einbrechen für den Lebensunterhalt

Im Jahr 1978 vergewaltigte Berger eine Frau. Auf der Suche nach Geld brach er in ihre Wohnung ein, um zwei Uhr morgens. Im Machtrausch stellte er sich die Frage: gehen oder bleiben? Er blieb. "Ich wollte wissen, wie das ist, wenn man jemanden zum Geschlechtsverkehr zwingt", sagt Berger lakonisch und fügt im Therapiedeutsch an: Die Tat sei Ausdruck seiner "unreifen Sexualität" gewesen. Das Messer, betont er, habe er dabei aber zur Seite gelegt.

Und dann kam schließlich die Zäsur, am 11.November 1995. Berger wurde abermals verurteilt, zu vier Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Zuvor war er mit einem Kumpel wieder mal bei einem Einbruch erwischt worden. Das sei für ihn die einfachste Form des Lebensunterhalts gewesen, sagt Berger. Auf was anderes habe er keine Lust gehabt. Das Gericht sah das ganz ähnlich: Er sei ein "hartnäckiger Berufseinbrecher", bescheinigten ihm die Richter.

Privilegien für Sicherungsverwahrte

Berger litt damals an Polytoximanie: LSD, Hasch, Alkohol, Heroin, Rohypnol, Kokain, Codein - über Jahrzehnte konsumierte er alles an Drogen, was es auf dem Markt gab. Selbst im Gefängnis machte Berger damit weiter, erst recht in dieser "Leck-mich-am-Arsch-Zeit" zwischen 1995 und 2001, als er seinen Frust an den Beamten ausließ und eine Überdosis Heroin für den letzten Ausweg hortete. Seit zehn Jahren aber, versichert Berger, sei er nun clean: "Ich wollte nicht dieser Scheißtyp bleiben."

In Straubing lebt er zusammen mit 63 weiteren Männern in einem eigenen Trakt für Sicherungsverwahrte. Tagsüber dunkelt Berger seine zwei Zellenfenster mit Vorhängen ab. Er sagt, er wolle seine Ruhe haben. Der Alltag schleppt sich öde dahin. Er malt ein bisschen, schaut fern, hängt rum, raucht, wartet. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Abteilung durch nichts vom restlichen Gefängnis. Ein trister Bau, lange Korridore, Gitter, Netze im Lichthof.

Doch die Sicherungsverwahrten genießen ein paar Privilegien, die ihnen den Neid der normalen Strafhäftlinge eintragen: Sie haben beispielsweise einen eigenen Gruppenraum mit einer Spielkonsole. Abends bleiben ihre Zellen länger offen. Ihre privaten Fernseher dürfen immerhin 26 Zoll groß sein, erläutert Anstaltsleiter Matthias Konopka - sonst sind es maximal 21 Zoll. Einmal pro Woche können sie telefonieren und im Monat bis zu zehn Stunden Besuch erhalten. Sofern es draußen überhaupt noch jemanden gibt, der sie sehen will.

Bergers Anwalt Sebastian Scharmer sagt: "Die Verwahrung ist perspektivlos." Sein Mandant wolle keine Playstation, sondern die Freiheit. Scharmer ist ein junger Mann mit Haarzopf, der in einer schicken Hinterhofkanzlei am Prenzlauer Berg in Berlin residiert. Er vertritt mehr als 40 Mandanten, die in der Sicherungsverwahrung sitzen und jetzt wenigstens auf eine Verbesserung der Haftbedingungen hoffen. Berger zählt zu den harmlosen Fällen: Er hat weder einen Mord begangen noch einen Banküberfall; und die Vergewaltigung 1978 ist seine einzige Sexualstraftat geblieben.

"Ich scheiß auf eine soziale Entwicklung"

Gutachter bescheinigten Berger zwar eine "dissoziale Persönlichkeitsstörung", was dessen früherer Selbsteinschätzung ziemlich genau entspricht: "Ich scheiß auf eine soziale Entwicklung, ich tu alles, was ich will." Doch nach Ansicht von Scharmer reicht das keineswegs aus, um einen Menschen nach Verbüßung seiner Strafe auf unbestimmte Zeit einzusperren: "Was soll man mit so jemanden dort machen?"

Zumal bei der Verurteilung Bergers 1995 noch die Höchstgrenze von zehn Jahren Sicherungsverwahrung galt. Weil sich die Rechtslage danach aber geändert hatte, konnte das Gericht 2009 die Sicherungsverwahrung nachträglich verlängern: Die Richter stützten sich dabei unter anderem auf ein Gutachten aus dem Jahr 2006, in dem es hieß, es bestehe die Gefahr, dass Berger Straftaten gegen das Leben begehe. Ein zweiter Psychiater kam hingegen zum Schluss, die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall sei bei Berger nicht höher als bei anderen langjährigen Strafgefangenen.

Glück für Berger

Im Sommer 2009 legte Scharmer im Auftrag Bergers Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ein. Nur ein paar Monate später erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die deutsche Praxis der Sicherungsverwahrung für teilweise rechtswidrig, auch deshalb, weil sie sich kaum von der Haft unterscheidet.

Ein Glück für Berger: Denn als Reaktion auf den Richterspruch von Straßburg verabschiedete der Bundestag mehrere Gesetzesänderungen. Danach darf für Vermögensdelikte wie Berger sie begangen hat, keine Sicherungsverwahrung mehr verhängt werden. Berger kommt jetzt auf Anordnung des Oberlandesgerichts Nürnberg frei, egal wie das Verfassungsgericht an diesem Mittwoch über seine Beschwerde urteilt.

Den Knacki in sich zerstören

Und dann? Wird er wieder in die nächstbeste Wohnung einsteigen? Kann sich ein Mensch mit einer Biographie, die einer Trümmerlandschaft gleicht, überhaupt ändern? Bergers Vater fiel in Vietnam; seine leibliche Mutter wurde Jahre später ermordet. Er selbst wuchs bei einer Pflegefamilie auf. Schon als Jugendlicher prügelte er sich durch die Straßen. Er sei immer schon ziel- und haltlos gewesen, gesteht er ein.

Im Jahr 2001 ließ er sich für den Entzug in die Psychiatrie verlegen. Eine Ärztin sagte zu ihm: Er müsse den typischen Knacki in sich zerstören. Das hat er in der Therapie versucht, doch vier Jahre später musste er wieder in die Sicherungsverwahrung - angeblich soll Berger das Personal bedroht haben. Danach fiel er zunächst ins alte Muster zurück: Er beschimpfte die Beamten als Nazis, weil er sich als politischer Gefangener wähnte. "Erst langsam habe ich mich eingefügt."

Jetzt gibt er sich als geläutert. Draußen wartet seine Freundin. Mit ihr möchte er eine Familie gründen, vielleicht als Tierpfleger arbeiten, Bilder malen. Doch erst einmal wird Berger in eine betreute Wohngruppe einziehen. Schließlich hat er nie gelernt, wie man frei lebt, ohne Straftaten zu begehen. Aber der Mensch, beteuert Berger, könne sich zum Positiven verändern. Das hofft nicht nur er.

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