Süddeutsche Zeitung

Sicherheit:Lasst sie nicht unsere Köpfe besetzen

Der IS-Terror darf das Denken in Europa nicht beherrschen. Das wäre viel schlimmer als ein abgesagtes Fußballspiel oder ein geschlossener Weihnachtsmarkt.

Kommentar von Heribert Prantl

Wie sicher ist das Unsichere? Wie unsicher ist das vermeintlich Sichere? Wie viel Unsicherheit darf, kann, muss die Gesellschaft in Kauf nehmen? Die konkrete Entscheidung darüber trifft nicht "die Gesellschaft"; die Entscheidung wird getroffen von der Polizei und vom zuständigen Innenminister. Er entscheidet darüber, ob das Fußballspiel abgesagt wird; er entscheidet, ob und unter welchen Sicherheitsvorkehrungen der Weihnachtsmarkt stattfinden kann.

Der für die Sicherheit zuständige Minister kann sich dabei auf keine Umfrage stützen, es hilft ihm da kein Wählervotum weiter. Er entscheidet auf der Basis von Hinweisen und Gefahranalysen, meist unter großem öffentlichen Druck. Er entscheidet im Bewusstsein, dass womöglich jede Entscheidung falsch ist - und es bei der Entscheidung wohl nur darum gehen kann, welche weniger falsch ist. Entscheidet er sich für die Absage, gibt er dem Terror nach. Entscheidet er sich gegen die Absage, erlebt er die Hölle, wenn etwas passiert.

Lässt er ein Stadion räumen und wird anschließend nichts Verdächtiges gefunden, zeiht man ihn der Hysterie; das tun dann auch diejenigen, die zuvor diese Hysterie mitgeschürt haben. Und wenn eine Veranstaltung abgesagt ist, wird der Druck auf die nächste umso größer, weil sie dann als Indiz dafür gilt, ob man wieder zur Normalität findet.

Wie viel Gefahr darf, kann, muss man in Kauf nehmen?

Selten lastet Verantwortung so schwer. Selten ist die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit so konkret; und man hat dafür so wenig Zeit. Verantwortung heißt in dieser Situation auch: eine schnelle Antwort geben. Man drängt sich nicht danach, solche Entscheidungen treffen zu müssen. Und wer sich danach drängt, ist nicht der Politiker, den man sich in hoher Verantwortung wünscht.

Wenn es darum geht, die richtigen Politiker zu wählen, dann lautet die wichtigste Frage nicht, wie oft gekalauert wird, ob man von diesem oder jenem ein gebrauchtes Auto kaufen würde; die entscheidende Frage lautet, ob man sich vorstellen mag, dass dieser Politiker es ist, der in einer solchen kritischen Situation entscheidet. An der Frage trennt sich die Spreu vom Weizen; an dieser Frage scheitern die genialsten Selbstdarsteller, weil es hier nicht um Public Relations, sondern um öffentliche Verantwortung geht. Zu ihr gehört es auch, alles zu unterlassen, was Angst schürt.

Das öffentliche Reden will bedacht sein: Auch raunendes Herumreden über Gefahr und Verdacht schürt Angst. Angst ist die Autobahn, auf der man Sicherheitsgesetze schnell transportieren kann. Sicherheit bringt sie nicht. Die Register der Angst werden nicht nur von Terroristen gezogen, sondern von Politikern, Publizisten und sozialen Netzwerkern. Wenn die Angst das Denken beherrscht und das Handeln leitet, haben die Terroristen maximalen Schaden angerichtet.

In Syrien besetzen die IS-Terroristen das Land. Es darf ihnen nicht gelingen, in Europa die Köpfe zu besetzen. Es wird daher überall beschworen, dass man sich nicht beeindrucken lasse; aber das ist lautes Pfeifen im Keller. Das Fußballspiel wurde zur Demonstration für die Freiheit aufgeblasen; ohne diese Aufblaserei wäre die Absage leichter gefallen. Die banalsten Dinge wie der Besuch im Café werden zum Bekenntnisakt für "unseren Lebensstil" stilisiert. Solche vermeintliche Unerschrockenheit leugnet die Angst nicht nur, sie reproduziert sie.

Das Gerede vom Krieg hilft nicht weiter

Helmut Schmidt hat 1977, im Jahr der RAF-Verbrechen, den "kühlen Kopf trotz unseres Zorns" gefordert; das ist schwer. Es gab den kühlen Kopf weder damals, im Deutschen Herbst von 1977, noch gab es ihn im Jahr 2001, nach den Attentaten von New York und Washington. Und es ist heute nicht Ausdruck eines kühlen Kopfes, wenn von einer Kriegserklärung der Terroristen und von einem Frankreich im Kriegszustand geredet wird, wenn gar der "totale Krieg" gegen Terror und Terroristen propagiert wird und die EU-Staaten in diesem Krieg beistehen sollen.

Gewiss: Es geht große Gefahr aus von den wirren Irren vom IS und seinen Satrapen in Westeuropa. Die noch größere Gefahr aber läge darin, dass die Rechtsstaaten in ihrer Reaktion auf den Terror exaltieren. Sie dürfen ihre Besonnenheit nicht aufgeben und ihre Rechtsstaatlichkeit nicht dezimieren. Es genügt freilich nicht, eine heroische Gelassenheit in den Zeiten der Not zu beschwören. Solche Gelassenheit braucht einen Anker, den Anker der absoluten Gewissheit darüber, was der innerste, abwägungsfeste, unantastbare Kern des freiheitlichen Rechtsstaats ist, ohne den er seine Substanz verliert.

Wenn es die Gewissheit darüber gibt, dann geht die Freiheit nicht daran zuschanden, dass ein Weihnachtsmarkt geschlossen, Fußballspiele abgesagt und Kontrollen verschärft werden.

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Quelle:
SZ vom 19.11.2015/bepe
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