Nordrhein-Westfalen hält über die Weihnachtsfeiertage und Silvester lieber ein paar Einsatzhundertschaften mehr in Reserve als sonst. Sicher ist sicher nach einem unruhigen Jahr, geprägt durch Flüchtlingskrise und Terrorgefahr. Die "Rufbereitschaft" wird den Bereitschaftspolizisten an Rhein und Ruhr mit Freizeitausgleich von drei Arbeitsstunden vergütet.
Nur: Auch unter dem Tannenbaum finden sich ja gelegentlich Geschenke mit glitzernder Verpackung, aber wenig Inhalt. Die drei freien Stunden sind nämlich der Ausgleich für eine komplette 24-Stunden-Rufbereitschaft. Notfalls müssen die Beamten binnen 60 Minuten einsetzbar sein. Das heißt in einem Flächenland für etliche: Heiligabend bei Automatenkaffee in Dienststelle oder Polizeikaserne. "An Weihnachten besucht man die Familie und feiert gemeinsam. Das fällt für jene in der Rufbereitschaft aus", sagt Arnold Plickert, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Nordrhein-Westfalen.
In der deutschen Polizei geht die Wut um: Dauereinsatz, Personalnot, schlechte Vergütung. Jörg Radek, Vizechef des GdP-Dachverbandes, hat sich zwar amüsiert über den "Ich hab Polizei"-Rap des Satirikers und Polizistensohns Jan Böhmermann; das Video, in dem dieser Gangsta-Rapper wie "Haftbefehl" auf den Arm nimmt, ist Kult im Netz: "Ich ruf' Polizei, Polizei sofort zur Stelle / Kelle raus, Handschelle, gute Nacht, Gewahrsamzelle." Schön wäre es, sagt Radek, "aber leider ist die Polizei nicht überall sofort zur Stelle - wegen Überlastung".
Mindestens zehn Millionen Überstunden
Radek schätzt die Zahl der aufgestauten Überstunden aller Polizisten in Bund und Ländern "auf mindestens zehn Millionen". Statistisch werden sie nicht einheitlich erhoben. Aber allein Nordrhein-Westfalen bringt es, so Plickert, auf 3,6 Millionen: "Wer glaubt, diese ließen sich jemals wieder abfeiern, macht sich Illusionen." In Bayern sind bei der Bundespolizei seit Einführung der Grenzkontrollen am 13. September eine halbe Million Überstunden angefallen. Gleichzeitig hat die GdP aus Zahlen der Innenministerien berechnet, dass bundesweit seit 1997 mindestens 16 000 Stellen weggespart wurden, vielleicht sogar, meint Radek, bis zu 17 000.
Die Überlastung hinterlässt Spuren. Zum Beispiel: Die Bekämpfung der Netzkriminalität bleibt bescheiden. Die Zahl der Einbrüche steigt deutlich, die Aufklärungsquote ist inzwischen winzig. Tatsächlich haben Bund und Länder seit den Neunzigern aus Furcht vor den Pensionslasten auch bei der Polizei massiv gespart und dies gern als Polizeireform verkleidet. Nach der Reform war dann das Weihnachtsgeld gestrichen, die Dorfwache geschlossen und die Zahl der Streifenfahrten reduziert. Das alles hat sich bei den Großeinsätzen 2015 gerächt.
Aus diesem Grund sind vor dem Brandenburger Tor jüngst einige ziemlich dubiose Gestalten aufmarschiert. Rocker in Kutte standen da und Mafiosi mit Sonnenbrille: Es waren verkleidete Polizeibeamte in karnevalistischem Gangster-Outfit, sie hielten Plakate hoch: "Keine Polizei weit und breit. Der Politik sei Dank!" Inzwischen tut sich auch etwas, die besonders geforderte Bundespolizei erhält 3000 neue Stellen, auch Nordrhein-Westfalen stockt um einige Hundert auf. Doch insgesamt sind es bei Weitem nicht so viele neue Kollegen, wie die GdP für nötig hält, und bis sie ausgebildet sind, vergehen noch Jahre.
"Wir haben keine Reserven mehr"
Die Flüchtlingskrise bindet enorme Kapazitäten, die Demos der Pegida und ihrer Gegner tun es ebenso. Hinzu kam der G-7-Gipfel in Elmau, wohin allein alle 18 Hundertschaften der nordrhein-westfälischen Bereitschaftspolizei geschickt wurden. Dazu die Fußballwochenenden und Spezialaufgaben: In verkommenden Vierteln wie Duisburg-Marxloh sind ganze Hundertschaften nötig, um die Botschaft zu verdeutlichen: Hier hat immer noch der Staat das Sagen und keine Gang.
Kein Wunder, dass die Bereitschaftspolizei besonders unter der Aufgabenfülle ächzt, zumal sie noch ständig Personal für besondere Anlässe abgeben muss. "Wir haben keine Reserven mehr", sagt GdP-Vize Radek über deren Situation. "Das ganze Gerede von Vereinbarkeit von Beruf und Familie" werde inzwischen "ad absurdum geführt", schreibt der Bereitschaftspolizist Michael Folchmann aus Recklinghausen in einem Brandbrief. Will sagen: Auch Polizeibeamte könnten ein Fußballspiel einmal anders verfolgen als durch das Visier ihres Schutzhelms - zum Beispiel, indem sie ihren Kindern mal beim Kicken im Verein zuschauen.
Seit Jahren fürchten die Gewerkschaften, dass wegen der Personalnot der Polizei hoheitliche Aufgaben wegdelegiert würden an private Sicherheitsdienste. Übergriffe von Securitymännern in Flüchtlingsheimen haben diese Sorge noch verschärft. Die GdP hatte wiederholt wesentlich höhere Ausbildungsstandards für dieses Gewerbe gefordert. Inzwischen ist der Bundestag damit befasst.