Süddeutsche Zeitung

Shutdown in den USA:Stunde der Ideologen

Wähler, die ihr Parlament verachten. Politiker, die Zivilität als Schwäche sehen. Parteien, die extreme Positionen befeuern: Was man in den USA schon seit einigen Jahren und nun im Haushaltsstreit beobachten kann, ist die Selbstzerstörung einer der ältesten Demokratien der Welt.

Ein Kommentar von Hubert Wetzel

Man kann das, was in Washington gerade passiert, so erklären: Eine kleine Gruppe radikaler Republikaner im Kongress erpresst den Präsidenten. Der lässt sich nicht erpressen. Anstatt im Tausch dafür, dass die Erpresser ihm Geld für die Ausgaben der Regierung zubilligen, seine Gesundheitsreform zu entkernen, sperrt er die Regierung lieber zu. Und man kann Barack Obama auch kaum dafür schelten, dass er standhaft geblieben ist. Hätte er nachgegeben, die Radikalen - Staatsnihilisten, die ein ganzes Land als Geisel nehmen - hätten triumphiert.

Tatsächlich geht das Washingtoner Drama jedoch weit darüber hinaus, dass ein paar Tea-Party-Rebellen den Präsidenten piesacken. Was man in Amerika seit einigen Jahren schon beobachten kann, ist die Selbstzerstörung einer der ältesten Demokratien der Welt. Und die große Tragik ist, dass dieses Zerstörungswerk nicht von den Feinden der Demokratie verübt wird, nicht von gierigen Lobbyisten oder finsteren Großspendern. Amerikas Demokratie wird von denen kaputt gemacht, die sie tragen und bewahren sollten - von den Wählern, den Parteien und den Politikern.

Die Schuld der Wähler: Amerikas Bürger misstrauen dem Kongress, und sie lehnen mit großer Mehrheit die Zwangsschließung der Regierung ab. Trotzdem kann sich jeder einzelne republikanische Angeordnete in seinem wütenden Kampf gegen Obama auf den Volkswillen berufen. Jeder dieser Abgeordneten hat in seinem Wahlkreis die Wahl gewonnen, jeder ist von den Bürgern mit dem Mandat nach Washington geschickt worden, Obama und den Demokraten einzuheizen. Die Amerikaner verachten ihr Parlament zutiefst - aber es ist genau das Parlament, das sie gewählt haben. Und das sie verdienen.

Zivilität gilt als Zeichen der Schwäche

Die Schuld der Parteien: Die Parteien in den USA sind zu Heimstätten der Radikalität geworden. Die Amerikaner neigen ohnehin mehr und mehr dazu, unter Gleichgesinnten zu leben. Die Parteien verschärfen diese selbstgewählte rot-blaue Apartheid, sie vertiefen die politische, kulturelle und geografische Spaltung der Gesellschaft. Ihre Art der Kandidatenauswahl und der von ihnen gesteuerte Zuschnitt von Wahlkreisen befördert den Aufstieg kompromissloser Ideologen. Statt als Puffer wirken die Parteien als Brennkammern, in denen extreme Positionen befeuert werden.

Die Schuld der Politiker: Mandatsträger, die über ihren Wahlkreis (und ihre Karriere) hinaus denken, sind in Amerika rar; ebenso Politiker, die dem Gegner mit Respekt oder gar Verständnis begegnen. Die Republikaner beschimpfen Obama als Sozialisten (schlimmer noch: als Europäer), als heimlichen Muslim, als Lügner. Obama, der Mann, der einst versprach, den brutalen Ton in Washington zu ändern, tituliert die Republikaner heute als Verrückte. Zivilität und der Glaube ans Gemeinwohl gelten als Zeichen der Schwäche.

Im Moment streitet Washington über die Staatsfinanzen, niemand weiß, ob das Land in drei Wochen noch zahlungsfähig ist. Die bittere Wahrheit ist: Politisch ist Amerika schon bankrott.

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SZ vom 02.10.2013/sana
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