Shoppen, Streamen, Daten senden:Alexa, mach das Licht aus

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Durch die Digitalisierung sollte das Leben nicht nur bequemer werden, sondern auch umweltfreundlicher. Mit ihrem Fortschreiten aber passiert das glatte Gegenteil.

Von Michael Bauchmüller

Jens Gröger meldet sich vom anderen Ende der Welt, das ist für ihn normal. "In Berlin sitze ich auch nur am Schreibtisch", sagt er. "Es macht keinen großen Unterschied, ob der Schreibtisch in Berlin steht oder in Neuseeland." Außerdem tue ihm die andere Perspektive gut; und wenn Gröger, Digital-Experte des Öko-Instituts, mal an einer Konferenz in Europa teilnimmt, dann lässt er sich per Video zuschalten, aus einem kleinen Ort südlich von Christchurch. Die Digitalisierung macht's möglich.

Die Digitalisierung macht vieles möglich, gerade in diesen Tagen. Wenn mit diesem Wochenende die heiße Phase des Weihnachtsgeschäfts beginnt, dann werden nicht nur die Kassen in den Läden klingeln, sondern auch die Computer-Mäuse zu Hause klicken. Wie schon im Vorjahr erwartet die Paketbranche auch 2019 sieben bis acht Prozent mehr Sendungen, bequem bestellt vom Sofa aus, manchmal noch am selben Tag geliefert. Wer will, kann den Weg des Paketautos haarklein verfolgen. In der digitalen Welt hat der Kunde alles im Griff.

Diese Welt könnte eine umweltfreundlichere sein, rein theoretisch. Wer sich die Waren liefern lässt, muss nicht mit dem Auto in die Stadt fahren. Oder Gebäude: Die Sensoren von Häusern können erkennen, wenn jemand zu Hause ist, und die Heizung entsprechend regeln. Oder Verkehr: Wer in der Stadt wohnt, braucht nicht mehr zwingend ein eigenes Auto - er schnappt sich einfach eins vom Carsharing. Oder ein Leihfahrrad. Oder einen E-Scooter. Wo die stehen, verrät das Smartphone, mit dem man praktischerweise inzwischen auch alles Mögliche bezahlen kann.

Macht diese digitale Welt also alles effizienter? Ist sie vielleicht sogar klimafreundlicher als die analoge Vorgängerin? Am anderen Ende der Welt hat Gröger da so seine Zweifel. "Im Moment sitzen wir auf einem Zug, der in vollem Tempo fährt", sagt er. "Ohne dass wir die genaue Richtung kennen." Wenn man aber eine erste Zwischenbilanz ziehe, dann vereine sie die Nachteile beider Welten. "Es kommt leider alles genau so, wie wir befürchtet haben."

Da wäre etwa die Sache mit dem Video-Streaming. Ökologisch ist das eigentlich eine feine Sache, früher musste man Filme auf DVDs bannen. Dreimal geguckt, standen sie nur noch herum, irgendwann flogen sie in den Müll. Zu Videotheken muss am Samstagabend auch niemand mehr fahren, der Film kommt auf Knopfdruck. Das Problem, sagt Gröger, sei nur: "Die Leute schauen sich bei Netflix eine Serie an, und gleich danach wollen sie die Original-Schauplätze besuchen." Flugtickets und ein Apartment, klar, gibt es auf Knopfdruck vom Sofa aus.

Ohne Energie läuft aber auch digital nichts. Mittlerweile frisst Informationstechnik sieben Prozent des weltweiten Stromverbrauchs, der Energiehunger entspricht dem des gesamten Luftverkehrs. Das Wachstum verläuft exponentiell, in Deutschland verdoppelt sich der Verbrauch alle zwei Jahre. Bis 2030 könnte der Bedarf von Rechenzentren, Netzwerken und Endgeräten Schätzungen zufolge auf 20 bis 30 Prozent des weltweiten Strombedarfs steigen, weil selbst einfachste Anwendungen mit Datentransfer verbunden sind. "Früher hat man das Licht abgeschaltet", sagt Gröger. "Heute sagt man: Alexa, mach mal das Licht aus."

Berechnungen zur Ökobilanz der Digitalisierung haben diese Effekte lange unterschätzt. Selbst dem Onlinehandel attestierten Experten zwischenzeitlich einen Umweltnutzen. Lagerhallen brauchen weniger Energie als ein Einzelhändler mit seinem Laden; Autofahrten dorthin entfallen. Was die Berechnungen unterschlugen: Für die Umwelt zahlt sich das erst aus, wenn der Einzelhändler komplett verschwunden ist. "Wenn wir aber lebenswerte Innenstädte wollen, kann das nicht der Sinn der Sache sein", sagt Katrin Dziekan, die sich beim Umweltbundesamt mit dem Thema beschäftigt. Zumal die Fahrten nicht unbedingt wegfallen. Kunden bestellen online, haben sich aber vorher im mollig beheizten Laden schlaugemacht. Jedenfalls, wenn es den noch gibt.

Was wächst, ist der Lieferverkehr. Versandhändler wie Amazon versprechen ihren Kunden in Städten wie Berlin oder München mittlerweile die Lieferung schon binnen einer Stunde, das passt zum großen Versprechen der Digitalisierung: alles ist überall verfügbar, jederzeit! "Ökologisch ist das unmöglich", sagt Dziekan. "Da geht es nur noch um den Faktor Zeit."

Dabei kann die Digitalisierung gerade in der Logistik einige Wege ersparen. Leerfahrten von Lastwagen lassen sich leichter vermeiden, Schiffe um zeitraubende Stürme herumführen. Auch der Versandhandel könnte umweltfreundlicher sein, wenn möglichst viele Lieferungen in einer Fahrt zusammengefasst würden, oder wenn Päckchen verschiedener Paketdienste in gemeinsamen Logistikzentren verladen würden, um unnötige Fahrten zu vermeiden. "Der Trend geht leider in die andere Richtung", sagt Dziekan. Mehr noch, Bestellungen würden zunehmend auf viele kleine Sendungen verteilt. Das lässt nicht nur den Verkehr in den Städten anwachsen, sondern auch die Berge an Verpackungsmüll. Unschöne neue Welt.

Wie anders waren die Erwartungen. Schon 1977 beschrieb der Zukunftsforscher Robert Jungk die Chancen der "elektronischen Medien" als "Element der Hoffnung" in seinem sonst so apokalyptischen Werk "Der Atomstaat". Viel schneller könnten sie neue Werte ins Gespräch bringen und "nicht mehr vertretbare Haltungen abbauen helfen". Von der "Dematerialisierung" durch Digitalisierung, von der spätere Zukunftsforscher träumten, konnte er da noch gar nichts ahnen.

Die Digitalisierung in den Dienst der Nachhaltigkeit stellen - das schwebte auch dem Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen vor, als er im April sein jüngstes Hauptgutachten vorstellte. Kluge Sensoren, "selbstorganisierte Systemoptimierung", Videokonferenzen statt Flugreisen, all das könne dazu gehören. Allerdings sei festzustellen, dass "die Digitalisierung von Wirtschaft und Alltag sich bislang nur marginal an Nachhaltigkeitsaspekten orientiert". Ändere sich dies nicht, so warnt der Beirat, drohe die Digitalisierung "als Brandbeschleuniger von Wachstumsmustern zu wirken, die planetarische Leitplanken durchbrechen".

Bei der Mobilität zeichnet sich das jetzt schon ab - das glatte Gegenteil einstiger Hoffnungen. Denn auch die vielen Tausend Carsharing-Autos, die sich mittlerweile in deutschen Großstädten finden, galten einmal als ökologische Chance. Menschen könnten so ihr Auto abschaffen und trotzdem mobil bleiben. Die Fahrzeuge stünden nicht so oft ungenutzt herum. Wertvoller Parkraum in den Städten würde frei. Bis zu 20 Autos, so schätzt der Branchenverband, könnte ein einzelnes Carsharing-Auto ersetzen. Weil die zunehmend elektrisch fahren, wäre auch die Umweltbilanz besser. Könnte, wäre, würde.

Am Autobestand jedenfalls lässt sich der angebliche Effekt nicht ablesen. In Berlin und Hamburg, beides Städte mit großen Carsharing-Flotten, wuchs die Zahl der Privatautos binnen eines Jahres um 7,5 Prozent. Im Juli 2019 kurvten dort fast 13 000 Autos mehr durch die Straßen als ein Jahr zuvor. "Es gibt empirisch keinen Beleg, dass sich durch Carsharing und Digitalisierung der Straßenverkehr entspannt", sagt Daniel Rieger, der sich beim Naturschutzbund Nabu mit Mobilität befasst. "Wir sehen eher, dass junge Leute durch die Angebote ans Auto herangeführt werden." Gründeten die dann irgendwann eine Familie, werde wie eh und je ein Pkw angeschafft. Auch digitale Fahrdienste wie Uber haben Studien zufolge nicht Autofahrten ersetzt, sondern weitere geschaffen. Dieser Tage rief der Nabu deshalb schon die "Uberkalypse" aus. Wegen der hohen klimaschädlichen Emissionen, die der digitale Dienst in den großen Städten nach sich zieht.

Gleichzeitig sammeln digitale Dienstleister fleißig die Währung der neuen Welt: Daten. Google etwa weiß über seine Kartendienste, wohin sich Menschen bewegen. "Für die Planung von Städten oder neuen Buslinien wären solche Daten extrem hilfreich", sagt Nabu-Mann Rieger. Nur liegen sie eben bei den meist privaten Anbietern der Dienste, die diese Daten mit allen anderen Informationen koppeln können. "Man hat das zu lange laufen lassen", sagt auch Constanze Kurz, Geschäftsführerin des Chaos Computer Clubs. Inzwischen seien viele der Informationen fest in der Hand großer Konzerne. "Natürlich haben diese Daten auch eine ökologische Komponente. Nur fürchte ich, dass den Firmen der Profit wichtiger sein wird."

Auf dem Sofa daheim, umgeben von Tablet und Alexa, bekommen die Nutzer davon nicht viel mit. Gerade junge Menschen unter dreißig, so zeigte kürzlich eine Studie des Umweltbundesamtes, gingen vermehrt "inhäusigen Aktivitäten" nach. "Mögliche Erklärungen hierfür sind zunehmende Internet- und Mediennutzungszeiten zu Hause", heißt es in der Studie. "Wenn das so weitergeht", sagt Umweltamt-Expertin Dziekan, "bekommen wir bald zu den Umweltproblemen noch ein Gesundheitsthema dazu." Nämlich Bewegungsarmut, durch Videostreaming, Lieferdienste - und eine Alexa, die das Licht ausmacht.

© SZ vom 30.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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