Sexueller Missbrauch:Wenn aus dem Schwimmlehrer ein Täter wird

  • Seit 2016 arbeitet eine Unabhängige Kommission Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder in der Bundesrepublik und der DDR auf.
  • Nun haben die Experten Empfehlungen vorgelegt, wie Institutionen solche Fälle aufarbeiten können.
  • Darin finden sich Tipps zu Rechtsfragen ebenso wie zur Finanzierung und zur Zusammensetzung des Aufklärerteams.

Von Thomas Jordan, Berlin

Da ist der kleine Junge, dem ein Betreuer verspricht, ihn für die Landesmeisterschaften im Schwimmen besonders zu fördern. Beim Anprobieren der Badehose fängt es dann an. Der Betreuer fasst ihn an. Immer wieder. Ein halbes Jahr lang. Fünfzig Jahre später schreibt der heute über Sechzigjährige eine Email an seinen ehemaligen Schwimmverein. Er will niemanden bloßstellen, er will auch keine Wiedergutmachung. Er will einfach nur reden über das, was geschehen ist, und die Trainer sensibilisieren. Die Antwort, die er vom Verein erhält, erschüttert ihn: "Man war zu keinem Gespräch bereit. Die Email klang wie von einem Anwalt", sagt der Mann, der Andreas genannt werden will.

Seit dem Jahr 2016 arbeitet eine Unabhängige Kommission aus Experten und Betroffenenvertretern nach einem Beschluss des Deutschen Bundestags Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder in der Bundesrepublik und der DDR auf. Nun haben die Experten Empfehlungen vorgelegt, wie Institutionen solche Fälle aufarbeiten können. Das Dokument, an dem neben Wissenschaftlern und Experten auch Vertreter von Betroffenen mitgewirkt haben, hat auf einer breiten empirischen und gesellschaftlichen Basis Kriterien zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs erarbeitet.

Die Fallzahlen beim Thema sexueller Kindesmissbrauch in Deutschland sind erschreckend hoch: Alleine im Bereich des Breitensports gehen Fachleute der Uniklinik Ulm von hochgerechnet 200 000 Betroffenen aus. In der katholischen Kirche rechnet dieselbe Studie mit etwa 114 000 Menschen, bei den Protestanten sind es ebenso viele. Der Fall von Andreas stammt aus einer Veröffentlichung der Kommission, in der Betroffene ihre Geschichte erzählen können.

Eine Checkliste mit 13 Kriterien

Etwa 1500 Menschen haben sich bis heute an die Kommission gewendet. "Betroffene machen sehr häufig die Erfahrung, dass sie von ihren eigenen Institutionen zurückgewiesen werden", sagt die Vorsitzende des Gremiums, Sabine Andresen. Damit setzt oft ein Teufelskreis ein, den viele Betroffene schon aus ihrer Kindheit kennen: "Sie machen wieder die Erfahrung von Ohnmacht und Zurückweisung", sagt die Erziehungswissenschaftlerin. Auf Seiten der Vereine, Schulen oder Gemeinden herrsche dagegen oft Unkenntnis darüber, wie mit Betroffenen umzugehen ist.

In dem etwa 50 Seiten starken Dokument wollen die Experten die wichtigsten Themenfelder aufzeigen, die sich bei der Aufarbeitung ergeben. Sie haben dafür eine Checkliste mit 13 Kriterien erstellt, die dabei helfen soll, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten. Darin finden sich Tipps zu Rechtsfragen ebenso wie zur Finanzierung und zur Zusammensetzung des Aufklärerteams.

"Wir wollen Orientierung, Handlungssicherheit und Ermutigung geben", sagt Andresen. Das heißt zunächst einmal, aufzuklären, was geschehen ist. Dazu brauche es ein Team aus Pädagogen, Psychologen und Medizinern, die mit der Aufarbeitung betraut werden, sagt der Sozialpsychologe Heiner Keupp, Mitglied der Kommission. Er rät dazu, mit den Vorfällen an die Öffentlichkeit zu gehen: "Damit die Betroffenen die Möglichkeit haben, beteiligt zu werden." Aufarbeitung bedeutet für die Kommission "konkrete Verantwortung" zu benennen, und aufzuzeigen, durch welche "Prozesse, Kulturen und Abläufe" der sexuelle Missbrauch ermöglicht wurde, sagt Kommissionsmitglied Matthias Katsch. "Dazu gehört, dass die Täter benannt werden" sagt Katsch.

Viele Straftaten sind verjährt

Juristisch kann das heikel sein. Denn in vielen Fällen liegen die Straftaten so lange zurück, dass sie längst verjährt sind. Die Beschuldigten können somit nicht mehr von einem Gericht als Täter verurteilt werden.

Dem Verlangen nach Transparenz steht der Persönlichkeitsschutz der Beschuldigten entgegen. Brigitte Tilman ist in der Kommission für Rechtsfragen zuständig. Die ehemalige Präsidentin des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main war federführend an der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule beteiligt. Damals entschloss man sich dazu, die Täter im Aufarbeitungsbericht mit Namen zu nennen. "Wir haben das riskiert", sagt Brigitte Tilmann. Alles andere wäre von den Opfern im Fall der Odenwaldschule "als Verweigerung von Anerkennung und Verantwortungsübernahme gesehen worden".

Oft stellt sich bei der Aufarbeitung auch ein anderes, grundlegendes Problem: Überhaupt an Dokumente zu gelangen, die einen Missbrauchsverdacht erhärten können. Heiner Keupp, der Missbrauchsfälle in der Kirche untersucht hat, berichtet von einem "unglaublichen Chaos in den Archiven". Mitunter seien sogar frühere Täter ins Archiv versetzt worden. Den "Bock zum Gärtner machen" nennt Keupp das. Brigitte Tilmann rät Aufarbeitungsteams daher dazu, sich vertraglich zusichern lassen, die Archive der jeweiligen Institution benutzen zu dürfen. Einen rechtlichen Anspruch darauf gibt es nämlich nicht.

Die Experten appellieren bei der Vorstellung ihrer Empfehlungen an Schulen, Vereine und Gemeinden, sich ihrer Missbrauchs-Vergangenheit zu stellen. Man könne mitunter eine "Flucht in die Prävention als Reaktion auf Enthüllungen" feststellen, sagt Katsch. Zukünftiges Leid zu verhindern, reicht aber nicht.

Missbrauchsfälle können Vereine überfordern

Es braucht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: "Eine verborgene Gewaltgeschichte wirkt in die Gegenwart einer Institution hinein" sagt Andresen. Sie kann eine Schule von innen zerfressen. "Die Atmosphäre der Vertuschung hält über Jahrzehnte an", sagt Brigitte Tilmann. Mit Blick auf die Odenwaldschule, die 2015 geschlossen werden musste, sagt sie: "Eine Institution, in der nicht vernünftig aufgearbeitet wird, riskiert ihre Existenz."

Natürlich kann es einen kleinen Sportverein überfordern, wenn plötzlich ein Missbrauchsverdacht im Raum steht und aus dem hoch geschätzten Schwimmtrainer auf einmal ein möglicher Täter wird. Das wissen auch die Mitglieder der Kommission. Sie fordern deswegen, schon im Vorfeld Handlungskonzepte für solche Fälle anzulegen, den Kontakt zu Missbrauchsbeauftragten zu suchen und die nächsthöhere Ebene, etwa den Landessportbund, einzubinden.

Einen wichtigen Schritt aber, darin sind sich die Experten einig, kann jeder tun, egal wie groß der Verein, die Schule oder die Gemeinde ist, um die es geht: "Das Erste ist die Bereitschaft, der Person zuzuhören und die Geschichte, die mir erzählt wird, zu glauben", sagt Andresen.

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