Vielfalt der Geschlechter:Wann ist ein Mann kein Mann?

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Sowohl als auch und weder noch: eine geschlechtsneutrale Toilette an der University of California, Irvine (Foto: Lucy Nicholson/Reuters)

Geschlecht ist immer eindeutig und Intersexualität eine Krankheit: Es gibt viele Vorurteile gegenüber Menschen, die nicht dem klassischen Mann-Frau-Schema entsprechen. SZ.de widerlegt die fünf häufigsten.

Von Felix Hütten

"Wann ist ein Mann ein Mann?", fragte Herbert Grönemeyer im Jahr 1984. Vier Minuten lang philosophierte er in seinem Song über Männer und war sehr erfolgreich damit, das zugehörige Album hielt sich mehr als anderthalb Jahre in den Charts. Man muss kein Fan sein, aber wer will, kann zwischen den Zeilen Kritik an Geschlechterklischees und schon damals überkommenen Rollenbildern herauslesen.

Dreißig Jahre später ist die Gesellschaft nicht viel weiter. Ein gewisser Mario Barth füllt mit flachen Frau-Mann-Vergleichen ganze Stadien, und in den Köpfen der meisten Menschen existieren symbolisch zwei große Schubladen: In der einen stecken Frauen, in der anderen Männer. Dazwischen gibt es nichts. Immerhin: Inzwischen sind auch homosexuelle Beziehungen akzeptiert. Lesbische TV-Moderatorinnen müssen ihre Partnerin nicht mehr verstecken, und Bürgermeister können öffentlich sagen: "Ich bin schwul, und das ist auch gut so."

Doch von einer wirklichen Akzeptanz sexueller Vielfalt ist Deutschland noch weit entfernt. Transsexuelle, Intersexuelle oder Menschen, die sich einfach nicht in eine Kategorie einordnen lassen wollen, stoßen auf Unverständnis und erfahren Diskriminierung. SZ.de räumt mit den häufigsten Vorurteilen über Transsexuelle, Intersexuelle und die Dualität der beiden Geschlechter auf.

Vorurteil eins: Geschlecht ist etwas Eindeutiges und Naturgegebenes

"Geschlecht ist eine wichtige Ordnungsstruktur unserer Gesellschaft," sagt Judith Conrads vom Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW der Universität Duisburg-Essen. "Das Alltagswissen geht davon aus, Geschlecht sei etwas Natürliches", sagt Conrads. "Und Naturgegebenes wird selten hinterfragt."

Allein durch ihre Existenz stellen Intersexuelle das vermeintlich Naturgegebene in Frage, denn auch sie sind nun mal von "Natur aus" so, wie sie sind. Deshalb wird in der Wissenschaft zunehmend eine soziale, gesellschaftliche Komponente der Kategorie Geschlecht diskutiert. Demnach ist die Trennung zwischen nur zwei Geschlechtern eben nicht naturgegeben, sondern menschengemacht und willkürlich konstruiert.

Prominenteste Vertreterin dieser These ist die Genderforscherin Judith Butler, die in zahlreichen Werken ausbuchstabiert hat, dass Körper und Gesellschaft nicht getrennt voneinander zu sehen sind. Konkret: Auch wenn der Körper als naturgegeben erscheint, ist er Teil einer gesellschaftlichen Vorstellung. Dahinter steht die Frage, was eine Frau zur Frau macht - und was einen Mann zum Mann. Gängige Antwort: Frauen können Kinder bekommen, Männer nicht. Dass weit verbreitete Denkmodelle wie diese zu kurz greifen, verdeutlicht allein die Tatsache, dass Tausende von Menschen in Deutschland keine Kinder bekommen können, obwohl sie sich welche wünschen. Sind sie also keine Frauen oder keine Männer?

Auch wenn die Debatte um sexuelle Vielfalt in Deutschland schon viel bewegt hat, bleiben viele Fragen unbeantwortet - oder auf den akademischen Kontext beschränkt. Nach Einschätzung von Judith Conrads führt außerdem die Begegnung mit Trans- und Inter-Menschen im Alltag nicht zwangsläufig zu einem Umdenken in der Bevölkerung. "Im Gegenteil", sagt Conrads. "Ihr Beispiel wird oftmals als Abweichung von der Geschlechternorm aufgefasst und damit als Bestätigung des klassischen Frau/Mann-Bildes gesehen." Man müsse unterscheiden zwischen Toleranz als öffentlichem Lippenbekenntnis und gelebter Toleranz im Privatleben, die bedeuten könne, auch eigene Grenzen zu überschreiten.

Vorurteil zwei: Es gibt zwei Geschlechter - Mann und Frau

Noch immer herrscht in unserer Gesellschaft die Vorstellung, es gebe nur zwei Varianten: Mann oder Frau. Diese Vorstellungswelt lasse Homosexualität zu, da diese das Konzept "Mann - Frau" nicht in Frage stelle - bei Trans- und Intersexuellen sehe das anders aus, sagt Geschlechterforscherin Conrads. Denn insbesondere intersexuelle Menschen sprengen das binäre System, sie lassen sich nicht in gängige Strukturen einordnen und werden deshalb oftmals ausgegrenzt.

Von der wachsenden Toleranz gegenüber Homosexuellen profitieren trans- und intersexuelle Menschen bislang nur wenig. Bewerben sich beispielsweise Transsexuelle auf einen Job, scheitern 30 bis 40 Prozent wegen ihres Trans-Seins. Intersexuelle können oder wollen sich nicht entscheiden, zu welchem Geschlecht sie gehören. Im Alltag stoßen sie oft auf Schwierigkeiten - von Formularen beim Behördengang über Hotelbuchungen bis hin zur Nutzung öffentlicher Toiletten.

Deshalb wird von verschiedener Seite die Forderung nach Anerkennung eines dritten, neutralen Geschlechts laut, das in Deutschland nach dem Personenstandsgesetz seit 2013 auch juristisch existiert. Bei Kindern, die eindeutig weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können, bleibt das Datenfeld demnach leer. Doch dieser Ansatz stößt bei einigen Intersexuellen auf Kritik, nicht nur weil er keine ergänzende Angabe ermöglicht und nur für Kinder gilt. Auch grundsätzlich wird das Konstrukt eines dritten Geschlechts mitunter abgelehnt, weil es weiterhin ausgrenze und damit die "Andersartigkeit" zementiere.

Was also tun? Geschlechterkategorien ganz abschaffen? Zusätzliche Kategorien einführen, die sich nicht daran orientieren, ob ein Mensch einen Penis oder eine Vagina hat, sondern vielleicht nach Statur und Körpergröße? Die Überlegungen sind vielfältig und werden in Fachkreisen und unter Betroffenen kontrovers diskutiert.

Vorurteil drei: Intersexualität ist eine Krankheit

Bis zur zwölften Schwangerschaftswoche haben Kinder im Mutterleib noch kein eindeutiges Geschlecht. Beide Anlagen sind vorhanden, Hormone lenken die Entwicklung schließlich in die eine oder andere Richtung. Bei Intersexuellen hat dies nicht in vollem Umfang stattgefunden. Innere und äußere Geschlechtsteile können unvollständig ausgebildet sein. Intersexuelle Kinder kommen beispielsweise mit einer vergrößerten Klitoris oder einem verkleinerten Penis zur Welt. Intersexuelle sind weder Mann noch Frau.

Die Ursachen dafür sind vielfältig und können etwa durch einen veränderten Chromosomensatz entstehen. Fachleute sprechen von einer "Störung der Geschlechtsentwicklung" (Disorders of Sex Development, DSD). Viele Intersexuelle kritisieren den Begriff "Störung" als diskriminierend, weil er nach Krankheit klingt. Interessenverbände wie TransInterQueer engagieren sich deswegen dafür, dass Intersexualität als Spielart der Natur anerkannt wird. Sie kämpfen gegen die Diskriminierung von Intersexuellen und versuchen deutlich zu machen, dass Intersexualität eben keine Krankheit ist, zumal medizinische Probleme nur selten auftreten.

Auch in den Krankenhäusern setzt sich diese Einschätzung allmählich durch. Noch bis vor wenigen Jahren wurden Kinder mit uneindeutigen Geschlechtsorganen oft kurz nach der Geburt operiert. Sie wurden zu Junge oder Mädchen, nichts sollte darauf hinweisen, dass sie intersexuell sind. Die Ärzte handelten dabei im vermeintlichen Interesse der Neugeborenen, wollten ihnen Leid und Identitätskonflikte ersparen - oft auch auf Bitten der Eltern.

Jedoch ist gerade dieser medizinische Eingriff eine schmerzhafte Erfahrung für viele Patienten. Zahlreiche intergeschlechtliche Menschen, die operiert wurden, sehen ihren Körper heute als verstümmelt an, fühlen sich fremd in ihrer Haut. Deswegen warten Mediziner mittlerweile so lange, bis sich ein intersexueller Mensch selbst für oder gegen eine OP entscheiden kann. "Der Wunsch der Eltern nach einem eindeutigen Geschlecht sollte gehört, aber nicht automatisch befolgt werden", sagt Hertha Richter-Appelt von der Uniklinik Hamburg.

Nur in medizinischen Ausnahmefällen werden Intersexuelle heute bereits im Kindesalter operiert. Zum Beispiel dann, wenn das Wasserlassen nicht problemlos möglich ist oder Krebsgefahr besteht. Doch solche eindeutigen Indikationen sind selten. Um Klarheit zu schaffen, veröffentlicht die Bundesärztekammer noch in diesem Jahr Leitlinien für Mediziner zum Thema Intersexualität. Darin werden Fragen zur psychologischen Behandlung, zu Operationsindikatoren und -methoden behandelt.

Vorurteil vier: Transsexualität ist - genau wie Homosexualität - eine sexuelle Neigung

"Du Transe" ist noch immer ein beliebtes Schimpfwort auf Schulhöfen. Dabei wissen viele nicht einmal, was Transsexualität eigentlich bedeutet. Vorurteile und Unwissen sind weit verbreitet, Begriffe werden verwechselt und falsch angewendet.

Transsexuelle Menschen werden mit einem eindeutig männlichen oder weiblichen Körper geboren, fühlen sich aber dem jeweils anderen Geschlecht zugehörig. Viele Transsexuelle sind überzeugt, im "falschen" Körper zu stecken. In Deutschland haben seit Anfang der neunziger Jahre mehr als 17 000 Menschen ihr Geschlecht offiziell nach dem Transsexuellengesetz angleichen lassen - weitaus mehr Betroffene aber haben diesen Schritt vermutlich noch nicht unternommen.

Viele entscheiden sich für eine Operation, um den Körper dem Erleben anzupassen und im Idealfall als Frau oder Mann leben zu können. "Wenn von einer Operation die Rede ist, geht es meist um die Angleichung des äußeren Genitals", sagt Hertha Richter-Appelt vom Institut für Sexualforschung der Uniklinik Hamburg. Bei den Eingriffen können Ärzte aus bestimmten Hautregionen einen Penis oder aus einem Penis eine Vagina formen. Nicht möglich ist die Angleichung der inneren Geschlechtsorgane wie zum Beispiel der Eierstöcke.

Die sexuelle Identität, im Alltag oft auch als Neigung oder Vorliebe bezeichnet, hat dagegen mit Transsexualität nicht viel zu tun. Dabei geht es um die Frage, ob sich jemand zu Frauen, Männern, beiden Geschlechtern oder zu niemandem sexuell hingezogen fühlt. Auch wenn die Begriffe ähnlich klingen: Transsexualität ist keine Frage der sexuellen Neigung, sondern der Geschlechtsidentität.

Vorurteil fünf: Männer müssen aufpassen, nicht auf Trans-Frauen hereinzufallen

SZ.de hat Zuschriften von Lesern und Leserinnen erhalten, die von Anfeindungen gegenüber Transsexuellen berichten. Nicht selten bekommen Trans-Frauen, die die Geschlechtsangleichung vom Mann zur Frau hinter sich haben, demnach zu hören, sie sollten aufhören, Männer auszutricksen. Ihnen wird unterstellt, sie würden Männer mit ihrem "falschen" Geschlecht betrügen. In den Zuschriften berichten Trans-Menschen, wie sehr sie sich einen Partner wünschen, aber immer wieder Ablehnung erfahren, wenn sie ihre Geschichte erzählen. "Es ist lediglich eine Kopfsache, die Tausende Transsexuelle zu Singles macht", schreibt eine Leserin.

Häufig ist auch zu hören, Transsexuelle entschieden sich zu einer "Geschlechtsumwandlung". Betroffene Menschen aber sprechen lieber von einer Geschlechtsangleichung. Denn Umwandlung klingt nach Verwandlung und Verkleidung. Transsexuelle wollen sich befreien von der Last, im falschen Körper zu stecken. Der Vorwurf, sie würden danach fälschlicherweise vorgeben, Mann oder Frau zu sein, zeugt vor diesem Hintergrund von mangelndem Verständnis und geht ins Leere.

Noch immer werden Trans-Menschen zudem als Transvestiten bezeichnet. Das ist schlicht falsch: Transvestitismus beschreibt das Tragen von Kleidern des anderen Geschlechts, unabhängig von der eigenen sexuellen Orientierung. Es kann als politisches Statement, als Kunstform oder einfach aus Spaß geschehen.

Linktipp: Ausführliche Informationen zu dem Unterschied zwischen Trans-, Homo- und Intersexualität und Broschüren zum Nachlesen bietet der Verein TransInterQueer.

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