Sexuelle Übergriffe:Missbrauch der Macht

Eines eint alle Fälle sexuellen Missbrauchs in Internaten und Klosterschulen: Die Angst und Scham der Schüler machten die Übergriffe von Pädagogen und Priestern erst möglich.

Lothar Müller

Bei den meisten der in Schulen und Internaten geschehenen Fälle sexuellen Missbrauchs, die nun, oft erst nach Jahrzehnten, öffentlich werden, wurden die Betroffenen nicht durch physische Gewalt gefügig gemacht. Sondern durch den Tribut, den die Macht stets und überall einfordern kann, wenn sie es darauf anlegt: die Angst.

Wer die Macht hat, muss nicht den Kasernenhofton anschlagen, um unwiderstehlich zu werden. Er kann den Tribut mit freundlichen Blicken oder einem Schwall schmeichelnder Worte einfordern, und er kann mit stummen, aber unmissverständlichen Signalen dementieren, dass das, was er gerade vollzieht, Machtmissbrauch ist, bis sich über den angstdurchsetzten Verzicht auf Gegenwehr die Suggestion des Einverständnisses gelegt hat.

Der mächtigste Verbündete dieser scheinbaren Anerkennung der Rechtmäßigkeit des Geschehens ist die Begleiterin der Angst, die Scham. Scham ist Angst vor der Selbstentblößung und darum Angst auch vor der Bloßstellung des Mächtigen, der seine Macht missbraucht hat.

In der Diskussion über die öffentlich gemachten Missbrauchsfälle sitzen derzeit die katholische Kirche und die Reformpädagogik gemeinsam auf der Anklagebank. Sie waren bisher eher durch tiefes wechselseitiges Misstrauen miteinander verbunden. Bischof Mixa hat die Diskussion um ein ziemlich einfältiges Argument bereichert: Erst die sexuelle Liberalisierung, ein Lieblingsthema der Reformpädagogen in der Odenwaldschule und anderswo, habe den Missbrauch in Kirchen und Schulen ermöglicht. Sicher, es gehörte ja zum Selbstverständnis der Reformpädagogik, das Wohl des Kindes vor dem Zugriff der großen, mächtigen, hierarchisch gegliederten Institutionen retten zu wollen.

Gerade weil die Unterschiede zwischen der großen, alten, machterprobten Institution und der jugendbewegten, institutionsskeptischen, im frühen 20. Jahrhundert wurzelnden Reformpädagogik so groß sind, treten die Gemeinsamkeiten umso stärker hervor. Hier wie dort wurde lange geschwiegen, zirkulierte das Wissen um die Missbrauchsfälle allenfalls intern, wird erst seit kurzem energisch Recherche in eigener Sache betrieben.

Züchtiger und Bestrafter

Und hier wie dort wurde doppelter Missbrauch betrieben: Es wurden Kinder oder abhängige Jugendliche missbraucht. Und es missbrauchten Erwachsene ihre institutionelle Macht wie ihre Autorität als Pädagogen. Hier, im Missbrauch der Macht, liegt die entscheidende Gemeinsamkeit, die den überführten katholischen Priester und den überführten Reformpädagogen eint.

Beide haben der Versuchung nachgegeben, die aus dem Machtgefälle zu den Schülern resultiert, auch dann, wenn den einen von beiden dabei womöglich Gewissensqualen heimsuchten und der andere der Illusion unterlag, allein dem "pädagogischen Eros" unterlegen zu sein.

Es ist noch nicht allzu lange her, dass in Deutschland der körperliche Übergriff von Lehrern auf Schüler nicht als Machtmissbrauch, sondern als legitime Machtausübung galt. Viele in der mittleren und älteren Generation der lebenden Deutschen dürften sich noch lebhaft aus Anschauung oder eigenem Erleben an das Recht der Lehrer zur körperlichen Züchtigung erinnern.

Die deutsche Literatur des späten 19.und frühen 20. Jahrhunderts ist voll von Schilderungen, die kaum Zweifel, daran lassen, dass die Geschichte der körperlichen Züchtigung in den Schulen und die Geschichte des sexuellen Sadismus in Deutschland sich überlagern. Und speziell die Internatsliteratur erzählt auch davon, dass beide Rollen, die des Züchtigers und die des Bestraften, auch von den Schülern selbst besetzt wurden.

Wenn die Reformpädagogik einst die staatliche Schulen mit dem Argument attackierte, es herrsche darin der Geist der Kaserne, war das nicht aus der Luft gegriffen. Es gab in den öffentlichen Schulen glänzende, integre Lehrer. Aber es gab keine öffentliche Ächtung der körperlichen Züchtigung. Die Abschaffung des Rechts von Eltern und Lehrern auf körperliche Züchtigung erfolgte erst in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts.

Wir erleben derzeit die Aufhebung der stillschweigenden Tolerierung des sexuellen Missbrauchs in den pädagogischen Institutionen. Er kann bisher trotz seiner juristischen Verfolgung kein starkes Tabu gewesen sein, wenn es über Jahrzehnte gelang, ihn in den Alltag der betroffenen Schulen und Internate zu integrieren. Er wird womöglich erst jetzt, durch die Skandalisierung, zum starken Tabu. Ein Tabu ist dann stark, wenn es als angstbesetzte Hemmschwelle auch für denjenigen wirkt, der die Macht hat.

Die Versuchung selbst, die sexuelle Attraktivität einzelner Schüler für einzelne Lehrer, wird nie jemand aus der Welt schaffen. Schon gar nicht in Bildungsinstutionen, die wie Internate und viele Eliteschulen die psychische wie die physische Nähe von Lehrern und Schülern um des Lernerfolges willen befördern. Oft sind in solchen Institutionen pädagogische Einheiten als "Familien" organisiert. Im Blick auf die Familien hat in jüngerer Zeit die Enttabuisierung des Sprechens über den Missbrauch begonnen, im Blick auf jene Institution also, in der die Machtausübung das leichteste Spiel hat, ihren Missbrauch zu verbergen.

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