Spanien:Wut über die Folgen des neuen Sexualstrafrechts

Lesezeit: 3 Min.

Teilnehmerinnen einer Demonstration gegen Gewalt an Frauen in Madrid. (Foto: Javier Lopez/dpa)

"Nur ja heißt ja": Ein neues Gesetz soll die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen stärken. Es hat aber eine paradoxe Konsequenz: Hunderte Straftäter wurden vorzeitig aus der Haft entlassen.

Von Nadja Tausche

Der Fall hatte besonders viel Empörung ausgelöst: Im Januar kam im katalanischen Lleida ein verurteilter Sexualstraftäter vorzeitig aus dem Gefängnis frei, und das, obwohl ihm ein hohes Rückfallrisiko bescheinigt wurde. Wegen zweifacher versuchter Vergewaltigung und Raub war er zu insgesamt 15 Jahren Haft verurteilt worden. Bereits als Jugendlicher hatte der Mann in 17 Fällen sexuelle Übergriffe begangen.

Nachdem im Oktober das Sexualstrafrecht in Spanien reformiert worden war, wurde der Fall neu aufgerollt - und das Strafmaß um 6,5 Jahre reduziert. Wegen solcher Fälle diskutiert Spanien seit Monaten über die Reform des "solo sí es sí", auf Deutsch: "Nur ja heißt ja." Nun will die Generalstaatsanwaltschaft in Hunderten Fällen die Strafminderungen anfechten, wie El País am Donnerstag berichtet. Eine genaue Zahl liege nicht vor, allein in Madrid sei aber in 62 Fällen Berufung eingelegt worden, zitiert die Zeitung Quellen aus dem Staatsministerium. Das Oberste Gericht könnte, wenn es wollte, in den allermeisten Fällen demnach die Urteile der Provinzgerichte kippen.

Seit das Gesetz verabschiedet wurde, hat sich für Hunderte Täter das Strafmaß reduziert

Denn das Gesetz, das eigentlich die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen stärken soll, hatte die paradoxe Konsequenz, dass sich dadurch für mindestens 646 verurteilte Straftäter das Strafmaß reduziert hat, so der jüngste Stand laut der Nachrichtenagentur Europapress. Mindestens 65 Menschen wurden seit Oktober vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen.

Mit der neuen Regelung sind sexuelle Handlungen künftig nur noch dann als einvernehmlich einzustufen, wenn alle Beteiligten ihnen zustimmen. Sexualisierte Übergriffe gegen den Willen einer Frau werden auch dann als Vergewaltigung gewertet, wenn diese sich nicht aktiv wehrt oder verbal widerspricht. Hintergrund ist, dass Vergewaltigungsopfer oft aus Angst oder im Schock stillhalten und schweigen.

Bisher hatte Spanien zwischen einem sexuellen Missbrauch und sexuellen Übergriffen unterschieden. Wenn keine Gewalt oder Einschüchterung im Spiel war, fiel die Strafe deutlich geringer aus. Das galt aber zum Beispiel auch dann, wenn der Täter vorher K.-o.-Tropfen verabreicht hatte und es der Frau gar nicht möglich war, zu äußern, dass der Vorgang gegen ihren Willen begangen wurde.

Was nun zu dem gegenwärtigen Problem geführt hat: Im Zuge der Reform wurde auch das Strafmaß für die Vergehen angepasst: Das Mindeststrafmaß wurde abgesenkt, das Maximalstrafmaß in Teilen angehoben, der Spielraum der Richterinnen und Richter für Strafen wurde also größer. In Spanien können aber Fälle nach einer Gesetzesänderung, die zum Vorteil der Verurteilten führen können, vor Gericht neu aufgerollt werden. Also stellten mehrere Straftäter Anträge auf Wiederaufnahme ihrer Verfahren - mit den beschriebenen Folgen: Etliche Richter nutzten offenbar die Möglichkeit, sich in bestimmten Fällen in Richtung der niedrigeren Mindeststrafe zu orientieren.

Der Protest im Land war und ist riesig. Der Hauptkritikpunkt: Hätte man nicht vorhersehen müssen, dass das passiert? Der Generalrat der rechtsprechenden Gewalt (CGPJ) hatte schließlich schon 2021 davor gewarnt, dass Strafen auf diese Weise herabgesetzt werden könnten. Die feministische Organisation Confluencia Movimiento Feminista kritisiert, das Gleichstellungsministerium habe die Warnungen von Experten ignoriert und sich zudem nicht mit Frauenrechtsorganisationen zusammengesetzt. Man habe versucht, ein "zutiefst komplexes Problem" anzugehen - aber ohne genug Zeit und ohne genügend Tiefe, teilt die Gruppe auf Anfrage mit.

Nun gibt es einen Vorschlag für eine Reform der Reform des Gesetzes

Andere Frauenrechtsorganisationen beklagen die entstandene Verwirrung: Die führe zur Ablehnung eines Gesetzes, "das entscheidend ist, um sexualisierter Gewalt gegen Frauen die Stirn zu bieten und sie abzuschaffen". So schreiben es mehrere Organisationen in einem im Februar veröffentlichten Manifest. Gleichstellungsministerin Irene Montero (Podemos) wiederum wirft den Richtern "Machismo" vor.

Anfang Februar legte die sozialdemokratische Arbeiterpartei PSOE von Ministerpräsident Pedro Sánchez nun einen Vorschlag für eine Reform des Gesetzes vor. Demnach soll für das Festlegen des Strafmaßes künftig zum Beispiel relevant sein, ob es zur Penetration kam. Das Parlament hat die Reform der Reform noch nicht gebilligt. Das Prinzip der Zustimmung will Gleichstellungsministerin Montero aber auf keinen Fall ändern. Denn mit der Neuerung müsse künftig keine Frau mehr beweisen, dass sie Gewalt oder Einschüchterung erlebt habe.

Teil des Gesetzes ist auch die Zusicherung, mehr Zentren für Opfer sexualisierter Gewalt einzurichten und mehr in Bildungsarbeit zu Prävention und zur Unterstützung der Betroffenen anzubieten. Gegen das Gesetz hatte die konservative Volkspartei PP sowie die rechtspopulistische Partei Vox gestimmt.

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Auch hierzulande werden immer wieder Rufe laut, das Sexualstrafrecht zu reformieren. Bei einer Petition, die bereits seit zwei Jahren läuft, haben bisher gut 48 000 Menschen unterschrieben. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes unterstützt solche Bestrebungen für Deutschland: "Es wäre ein Paradigmenwechsel", sagt Sina Tonk, Bereichsleiterin häusliche und sexualisierte Gewalt. "Nur ja heißt ja" bedeute dabei nicht, dass man die Zustimmung immer gegenseitig explizit erfragen müsse, erklärt sie: "Aktive Beteiligung kann auch eine Form der Zustimmung sein." Mit der aktuellen Regelung aber finde oft eine Täter-Opfer-Umkehr statt, beklagt Tonk: Es werde also die vergewaltigte Frau gefragt, warum sie nicht Nein gesagt habe. In Deutschland gilt seit 2016 der Grundsatz "Nein heißt nein".

Anlass für die Gesetzesreform in Spanien war ein Vorfall in Pamplona gewesen, als 2016 fünf Männer eine 18-Jährige vergewaltigt und Videos zur Tat anschließend über den Messenger Whatsapp verbreitet hatten. Weil das Gericht keine Gewalt oder Einschüchterung feststellte, bekamen sie eine geringere Strafe - später hob das Oberste Gericht das Strafmaß an. Auf den Vorfall, bekannt unter dem Namen "La Manada" (deutsch: die Meute), folgten Proteste im ganzen Land.

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