Sexismus-Debatte in Großbritannien:Westminster - wie eine Schule voller Teenager

Sexismus-Debatte in Großbritannien: Westminster - ein Laden voller pubertierender Jungs?

Westminster - ein Laden voller pubertierender Jungs?

(Foto: AFP)

Busen-Witze, eindeutige Angebote, "ungewollte" Berührungen: Jetzt ist auch in Großbritannien eine Diskussion über alltäglichen Sexismus entbrannt. Auslöser sind abermals Beschuldigungen gegen einen Liberalen. Okay, einen Liberaldemokraten.

Von Hannah Beitzer

Schon in der Schule war das nicht besonders witzig, wenn ein Mädchen zur Tafel ging und die Jungs in der hinteren Reihe mit den Händen Wölbungen über der Brust formten und hörbare Bemerkungen über die "Melonen" der Mitschülerin machten. Doch anscheinend geben manche von ihnen die nervigen Gewohnheiten nicht einmal auf, wenn die Schulzeit vorbei ist, die Pubertät überwunden, und sie selbst längst in verantwortungsvollen Positionen sitzen - zum Beispiel im britischen Parlament.

Den direkten Übergang vom Primaner zum Primaten schildert die ehemalige Labour-Abgeordnete Barbara Follet, die in einem Telegraph-Artikel der Journalistin Cathy Newman zitiert wird. Newman hat in Großbritannien eine Debatte über Sexismus in der Politik angestoßen - mit einem Bericht für den Fernsender Channel 4, in dem mehrere Frauen den ehemaligen politischen Geschäftsführer der Liberaldemokratischen Partei, Lord Christopher Rennard, beschuldigten, sie sexuell belästigt zu haben. Eine Beraterin von Parteichef und Vize-Premierminister Nick Clegg schilderte Newman zum Beispiel, Rennard habe sie während eines Treffens wiederholt berührt und auf sein Hotelzimmer eingeladen, andere weibliche Parteimitglieder berichten von Berührungen am Hintern.

Die Frauen erzählten dem Sender weiter, sie hätten sich bei verschiedenen Parteivertretern beschwert, diese hätten jedoch nicht sichtbar auf die Vorwürfe gegen ihren langjährigen Kampagnenleiter reagiert - ein Vorwurf, der auch den heutigen Vize-Premierminister Nick Clegg trifft, der der Partei seit 2007 vorsteht. Zwar sei ihnen versichert worden, dass Rennards Verhalten unangemessen sei, es sei jedoch nie zu einer offiziellen Aufarbeitung der Vorfälle gekommen.

Vize-Premier Clegg gibt angesichts der anhaltenden Kritik an seiner Partei zu, dass es "unkonkrete anonyme Bedenken" gegen Rennard gegeben habe. Von den konkreten Anschuldigungen will er jedoch nichts gewusst haben. Er habe dennoch bereits kurz nach seiner Wahl zum Parteichef veranlasst, dass sein Büroleiter mit Rennard darüber gesprochen habe. Nun spekuliert die britische Presse, dass Rennard wegen der Anschuldigungen zum Rückzug gedrängt wurde - er gab sein Amt 2009 auf, offiziell wegen gesundheitlicher Probleme. In der Partei blieb er jedoch aktiv, eine Tatsache, die die belästigten Frauen nun laut Newman dazu bewogen hat, an die Öffentlichkeit zu gehen.

"Als wären sie ihr Besitz"

Längst dreht sich die Debatte aber nicht mehr nur um den ehemaligen Kampagnenleiter der Liberaldemokraten. Guardian-Journalistin Vera Baird etwa bilanziert: "Als ich das erste Mal von den Vorwürfen gegen Lord Rennard hörte, war ich nicht überrascht. Nicht, weil ich irgendwelche Informationen über ihn persönlich habe (...). Sondern weil es in der Politik eine Kultur gibt, Frauen herabzuwürdigen und weil mächtige Männer oft ihre Position dafür ausnutzen, sexuelle Gefälligkeiten einzufordern."

Sie berichtet von älteren Abgeordneten, die junge Kolleginnen ganz selbstverständlich berührten "als wären sie ihr Besitz". Sie erzählt, dass Frauen sich gegenseitig warnten, welcher Abgeordnete für Anzüglichkeiten bekannt sei. Doch nach außen drängen solche Beschwerden fast nie. Nicht zuletzt seien viele Frauen um ihren eigenen Ruf besorgt. Sie befürchten, dass eine Beschwerde sie schwach und unprofessionell aussehen ließe.

Beunruhigende Anekdoten auch von Journalisten

Newman bringt in ihrem Telegraph-Artikel weitere Fälle zur Sprache. So berichtet die Tory-Abgeordnete Gillian Shephard von einem Abgeordneten, der sie konsequent "Betty" nannte. Die Begründung: "Ihr seid doch alle gleich." Die ehemalige britische Familienministerin Sarah Teather lieferte schließlich den Vergleich, Westminster sei wie "eine Schule voller Teenager".

Die Journalistin Newman selbst erzählt ebenfalls beunruhigende Anekdoten aus ihrem Arbeitsleben - wie sie von Abgeordneten zu Beginn ihrer Karriere zum Beispiel selbstverständlich für die Sekretärin gehalten wurde, nur weil sie eine Frau ist. Sie schont auch die eigene Zunft nicht. Der schlimmste Sexismus, so schreibt sie, sei ihr im Umgang mit anderen Journalisten begegnet. In ihrer Zeit bei der Financial Times habe ihr ein Vorgesetzter, den sie auf die Lohnungleichheit zwischen ihr und einem viel jüngeren Kollegen angesprochen habe, entgegnet: "Wozu brauchst Du mehr Geld? Du hast doch nicht einmal eine Familie."

Sie berichtet, wie ein Chefredakteur einer großen Zeitung ihr auf einer Partei-Veranstaltung unbeirrt eindeutige Angebote machte, obwohl sie ihm wiederholt klarmachte, dass sie kein Interesse hätte und zudem in einer langjährigen Beziehung lebte. Jener Chefredakteur habe schließlich ausgerechnet sie gebeten, in ihrem Hotelzimmer übernachten zu dürfen - angeblich weil er vergessen habe, selbst eines zu buchen.

Der Verlauf der Diskussion in Großbritannien erinnert stark an die #Aufschrei-Debatte, die der Artikel einer Stern-Journalistin in Deutschland jüngst ausgelöste. Mit einem Unterschied: In Großbritannien konzentriert sie sich nach wie vor stark auf den Politikbetrieb, die Journalistinnen zeigen sich in ihren Artikeln überzeugt davon, dass die Atmosphäre in Westminster besonders sexistisch sei.

Mit dem ganz alltäglichen Sexismus beschäftigen sich andere Initiativen, wie zum Beispiel der Twitter-Kanal @EverydaySexism. Dort diskutieren die Nutzer über die Oscar-Verleihung, Vergewaltigungswitze auf Facebook, sexuelle Herabwürdigung in öffentlichen Verkehrsmitteln und Chefs, die ihren Mitarbeiterinnen erklären wollen, was "ladylike" ist - und das in Jobs, die mit Politik überhaupt nichts zu tun haben.

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