Serie: Soziale Realität Balkan (3):Abgeschoben und vergessen

Menschen liegen in ihren Exkrementen, bekommen Medikamente, damit sie ruhig sind. Routine in Pflegeheimen auf dem Balkan. Und die EU schaut weg.

Yana Buhrer Tavanier

Junge Journalisten vom Balkan haben sich in diesem Jahr zum dritten Mal für das "Balkan Fellowship for Journalistic Excellence" beworben. Das Stipendium wird von der deutschen Robert Bosch Stiftung, der ERSTE Stiftung aus Wien und dem "Balkan Investigative Reporting Network" (BIRN) vergeben. So sind aufwendige Reportagen über die harte soziale Realität auf dem Balkan entstanden. sueddeutsche.de veröffentlicht drei Texte, die von einer Journalisten-Jury ausgewählt und mit Geldpreisen bedacht wurden.

Serie: Soziale Realität Balkan (3): Vernachlässigung statt Pflege ist in vielen Heimen am Balkan Alltag. Hier eine Frau aus dem bulgarischen Goren Chiflik.

Vernachlässigung statt Pflege ist in vielen Heimen am Balkan Alltag. Hier eine Frau aus dem bulgarischen Goren Chiflik.

(Foto: Foto: Yana Buhrer Tavanier)

Yana Buhrer Tavanier wurde 1979 im bulgarischen Burgas geboren. Sie arbeitet als freie Journalistin in Sofia.

Eine Frau schreit sich die Seele aus dem Leib, in dem umzäunten, verlassen wirkenden Hof. Die Frau ist barfuß, mager und in Lumpen gekleidet. Auf dem Boden wälzt sich eine zweite Gestalt, mit schmutzigen Händen umklammert sie zwei Brocken Brot. Ein Mädchen taucht sein trockenes Brot in eine schmutzige Pfütze vor den Toiletten, dann isst sie es. Niemand kümmert das.

Es ist Mittagessenszeit in Goren Chiflik, einer Einrichtung in Ostbulgarien, in der 90 Frauen mit geistigen Behinderungen und psychischen Störungen leben. Das Heim ist erst kürzlich renoviert worden. Aber die Baracken für die am stärksten behinderten Bewohner hat man dabei offenbar vergessen. Sie sind gut versteckt. So gut, dass die Leiterin der örtlichen Direktion für Sozialschutz sagt, sie habe sie noch nie gesehen, obwohl sie die Einrichtung oft besucht habe. Die 30 Frauen in den Baracken dürfen nicht mit den anderen essen. Sie bekommen ihre Mahlzeiten hinter dem Zaun, der den Hof in einen Käfig verwandelt.

Undercover-Recherche

Für diesen Artikel habe ich Einrichtungen für geistig behinderte oder psychisch gestörte Erwachsene in Bulgarien, Rumänien und Serbien besucht, größtenteils "undercover". Ich fand Menschenrechtsverletzungen, entwürdigende Behandlungen und alltägliche Gleichgültigkeit. Reformen werden nur lückenhaft und langsam umgesetzt. Oft kommen gerade jene zu kurz, die am verletzlichsten sind.

Bulgarien und Rumänien sind seit 2007 EU-Mitglieder, Serbien will es werden. Alle drei Länder haben eine trostlose Geschichte, was die staatlich organisierte Pflege betrifft. Sie sind weit davon entfernt, internationale Standards zu erfüllen. Heime sind unterfinanziert, haben kein qualifiziertes oder motiviertes Personal. Patienten werden nicht behandelt, sondern kontrolliert. Viele werden so allmählich zugrunde gerichtet, vor allem durch die ständige Gabe hoch dosierter Medikamente. Menschen kommen jahrelang nicht aus ihren Betten heraus. Kinder werden die meiste Zeit festgebunden.

Es steht viel auf dem Spiel für die drei Länder. Die EU-Kommission hat erklärt, dass sie Zahlungen aus ihrem Sozialfonds einstellen könne, falls ernst zu nehmende Verstöße in bulgarischen und rumänischen Einrichtungen auftreten. Aber Brüssel hat auch den Missbrauch jahrelang ignoriert.

In einem Heim für geistig behinderte Erwachsene in Radovets treffe ich 76 völlig lethargische Männer an. Viele zittern, die Gesichter sind starr, Bewegungen wirken schwerfällig. Radovets ist ein winziges Dorf in Südostbulgarien und, wie die meisten Einrichtungen liegt auch die dortige so abgeschieden, wie es nur geht. Offiziell bin ich in Radovets als Forscherin für das Bulgarische Helsinki-Komitee (BHC), die einflussreichste Menschenrechtsorganisation im Land. Als Journalistin würde ich das Personal in den Einrichtungen nur nervös machen.

Elf Jahre im Bett liegen gelassen

Obwohl bei fast allen Bewohnern Schizophrenie diagnostiziert wurde, gibt es in Radovets keinen Vollzeit-Psychiater. Der Heimleiter Krayo Kraev sagt, dass im Umkreis von 50 Kilometern nur ein einziger solcher Spezialist arbeite, und der komme nur einmal im Monat vorbei. So bekommen alle Männer die gleiche Therapie. Das Medikament Haloperidol steht in jeder Krankenakte, die ich einsehe. Der Heimleiter sagt: "Alle Bewohner haben von dem Psychiater dieses Mittel verschrieben bekommen." Der Leiter findet das in Ordnung.

Serie: Soziale Realität Balkan (3): Es ist Mittagessenszeit in Goren Chiflik in Bulgarien. Eine Heimbewohnerin sitzt mit ihrem trockenen Brot draußen auf dem Betonboden.

Es ist Mittagessenszeit in Goren Chiflik in Bulgarien. Eine Heimbewohnerin sitzt mit ihrem trockenen Brot draußen auf dem Betonboden.

(Foto: Foto: Yana Buhrer Tavanier)

Extreme Nebenwirkungen

Experten sagen, dass Haloperidol, ein altes Psychopharmakum, starke Nebenwirkungen habe, darunter "Tardive Dyskinesie". Wer daran leidet, bewegt unkontrolliert das Gesicht, die Hände, die Füße. Außerdem kann Haloperidol Akathisie verursachen. Man schaukelt dann ständig vor und zurück. Auch zu Lethargie, Schlaflosigkeit und Verwirrtheit kann es führen. Die Männer in Radovets bekommen jeden Tag Haloperidol, manche jahrelang. Aufzeichnungen zeigen, dass es hoch dosiert und ohne die Zustimmung der Patienten verabreicht wird. So werden die Bewohner sediert und das Personal hat seine Ruhe.

"Die Menschen werden nicht behandelt, sondern beherrscht", klagt Krasimir Kunev, der Leiter des Bulgarischen Helsinki-Komittees. "Ich habe noch nie so ausgeprägte Nebenwirkungen gesehen." Kunev kennt die Situation. "In solchen Einrichtungen verabreicht de facto die Belegschaft die Medikamente. Wenn der Psychiater vorbeischaut, sagt ihm das Personal, wer mehr Sedation 'braucht'. Die Mitarbeiter sind in der Regel unqualifiziert und es sind zu wenige. Da gibt es die Verlockung, medizinische Behandlung in ein Kontrollinstrument zu verwandeln."

Hristo ist einer der Heimbewohner. Der 32-Jährige, einst ein preisgekrönter Schachspieler, beschreibt seinen Tag so: "Ich wache auf, frühstücke, nehme meine Tabletten. Aber die rauben mir jede Energie und ich schlafe ein. Ich wache auf, gehe zum Mittagessen. Zum Glück bekommen wir dann keine Tabletten, so dass ich ein bisschen Schach spielen kann. Dann kommt das Abendessen, ich nehme meine Tabletten, ich bin erschöpft, ich gehe schlafen."

Änderungen? Nein!

Im bulgarischen Oborishte, einem Pflegeheim für Erwachsene, das gleiche Bild: Ein Drittel der 98 Bewohner sind psychisch krank. Auch der Blick in die Krankenakten in Oborishte zeigt, wie weit Haloperidol verbreitet ist. Viele Bewohner bekommen davon seit Jahren neun Milligramm pro Tag.

Der renommierte Psychiater, Professor Toma Tomov, betont, solch hohe Dosen sollten nur kurze Zeit und bei akuten Zuständen verabreicht werden.Tomov hat die Teilzeit-Psychiaterin in Oborishte gefragt, warum Patienten, die dies gar nicht bräuchten, routinemäßig so hohe Dosen bekämen. "Nachts haben wir nur einen Wächter und eine Krankenschwester und das ist beängstigend", sagte die Schwester. Heimleiter Ilcho Goranov verteidigt den Medikamenteneinsatz: "Er wird von einem Profi reguliert." Er hat nicht vor, die Dosen zu verändern.

"Wir halten das für Folter"

Serie: Soziale Realität Balkan (3): Die Männer in Radovets, Bulgarien, werden täglich mit Medikamenten ruhig gestellt. Die Nebenwirkungen sind fatal.

Die Männer in Radovets, Bulgarien, werden täglich mit Medikamenten ruhig gestellt. Die Nebenwirkungen sind fatal.

(Foto: Foto: Yana Buhrer Tavanier)

Die bulgarische Regierung sagt, die Abgeschiedenheit vieler Pflegeheime sei ein Schlüsselfaktor für den Personalmangel. Sie sagt, sie kümmere sich darum, das Problem zu lösen.

"Wir halten das für Folter, was wir gesehen haben", sagt Eric Rosenthal, Geschäftsführer von Mental Disability Rights International (MDRI), "ans Bett gefesselte Kinder; ein Mann, der elf Jahre nur im Bett lag". Im Jahr 2007 hat MDRI einen vernichtenden Report über Serbien veröffentlicht, der den gewohnheitsmäßigen Gebrauch von körperlichem Zwang und erniedrigender Behandlung in serbischen Pflegeheimen anprangerte. Hat sich seither etwas geändert? Serbiens Behörden haben die Vorwürfe damals wütend zurückgewiesen. Wer beim serbischen Sozialministerium in Belgrad nach der aktuellen Situation in den Heimen fragt, erhält lediglich die schriftliche Antwort auf den MDRI-Report von 2007.

Schönes Paralleluniversum

In Kulina, einer Einrichtung in Südostserbien, in der 500 Erwachsene und Kinder mit geistiger Behinderung und Entwicklungsstörungen untergebracht sind, kann man allerdings Anzeichen von Verbesserungen entdecken. Ein attraktives neues Gebäude für betreutes Wohnen wurde gebaut. Es gibt einen neuen Sportplatz und Aufenthaltsräume, wo weniger stark behinderte Kinder malen und spielen können. Aber wie in so vielen dieser Einrichtungen in der Region gibt es auch in Kulina ein Paralleluniversum.

In einem zweistöckigen Haus für Bewohner, die sich nicht bewegen können, gibt es keinen Aufzug. Im Obergeschoss finde ich Menschen, die in einen dunklen Raum gepfercht wurden. Sie werden offenbar nie nach draußen gebracht. Es ist totenstill.

Die schwer behinderten Kinder in Kulina verbringen ihre Zeit bewegungslos im Bett, manchmal gewaltsam fixiert, oder sie werden in leeren Aufenthaltsräumen an Stühle gebunden. Einige wippen auf dem Boden, immer vor und zurück. Es sind vergessene Kinder. Bettlägerige Jugendliche wirken nicht älter als Vierjährige. Kinder in Gitterbetten sind spindeldürr, ihre Arme und Beine verkümmert. Hier bekommen diejenigen am wenigsten Hilfe, die sie am dringendsten bräuchten.

"Sie könnten ja alles kaputt machen"

In Goren Chiflik, dem Heim in Ostbulgarien, gibt es auch ein solches Paralleluniversum. Dort stehen die neuen Häuser und die entsetzlichen Ställe, in denen die 30 Frauen eingesperrt sind, auf ein und demselben Grundstück. Heimleiter Stanislav Enchev hat nicht vor, die Frauen aus den Baracken in das neue Haus zu verlegen, weil er fürchtet, "sie könnten alles kaputt machen". Er sagt, die Behörden sollten Geld für ein weiteres neues Haus bereitstellen. Aber Bürgermeister Borislav Natov stellt klar, dass die Gemeinde nichts geben werde. "Wir haben kein Geld, um normale Lebensbedingungen für diese Menschen zu sichern", sagt er.

Im rumänischen Gura Vaii gibt es nicht einmal immer Zugang zu fließendem Wasser. Die 56 Patienten duschen einmal pro Woche. Die zwei Aufenthaltsräume sind verschlossen und unbenutzt. Wird hier irgend etwas anderes gemacht als Medikamente zu verteilen? "Na, die Musik draußen", sagt der Leiter und meint das Radio, das im Hof plärrt. Er behauptet gar, die meisten Patienten in der Psychiatrieabteilung für chronisch Kranke litten gar nicht an entsprechenden Krankheiten, sondern seien dement oder einfach nur obdachlos. Im Hof taumeln einige Menschen herum oder starren ins Leere. Als ich gehe, verstummt sogar das Radio.

Die EU hält sich zurück

Das rumänische Gesundheitsministerium will nichts zu den Mißständen sagen. Die EU schon. "Der EU-Kommission sind die derzeitigen Probleme in bulgarischen und rumänischen Einrichtungen vollkommen bewusst", heisst es in einer Stellungnahme. Es gebe die Möglichkeit, "die Zahlungen aus dem Europäischen Sozialfonds in bestimmten Fällen auszusetzen". Die Forderung von Experten, die EU sollte von ihren Beitrittskandidaten größere Fortschritte bei der Einhaltung von Menschenrechten verlangen, will die Kommission aber nicht kommentieren.

"Bulgarien und Rumänien sind sprichwörtlich ungestraft mit Mord davongekommen", sagt Oliver Lewis von der internationalen Menschenrechtsorganisation Mental Disability Advocacy Center. "Die Menschen waren und sind oft der groteskesten Vernachlässigung und Missbrauch ausgesetzt." Laura Parker, die vor Bulgariens EU-Beitritt als Sozialpolitik-Beraterin für die EU-Kommission in Sofia gearbeitet hat, sagt: "Es ist klar, dass die Entscheidung, die EU zu erweitern, vor allem eine politische war und Menschenrechte einfach nicht das wichtigste für die EU sind." Parker und ihre Kollegen haben mit ihren Berichten versucht, "die Realität zu beschreiben". Aber verschiedene Beamte der EU-Kommission hätten dann die Texte bearbeitet. "Die Endversion des offiziellen Berichts gibt die Situation nicht genau wieder", sagt Parker.

Der Friedhof von Radovets ist ein Sinnbild für diese Gleichgültigkeit. Etwa ein halbes Jahrhundert lang hatte das Pflegeheim ein eigenes Areal dort. Dutzende früherer Bewohner liegen unter dem überwucherten Feld. Trotzdem gibt es nur ein wenige Grabsteine. Anonymität im Tod ist das logisches Ende für ein Leben ohne Rechte, ohne Identität.

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