Serie: Soziale Realität Balkan (2):Ich träume auf Deutsch

Wegen Krieg und Armut sind junge Roma aus Serbien einst nach Deutschland geflohen. Dann wurden sie zurückgeschickt, in ein Land, das nicht mehr ihre Heimat ist.

Momir Turudic

Junge Journalisten vom Balkan haben sich in diesem Jahr zum dritten Mal für das "Balkan Fellowship for Journalistic Excellence" beworben. Das Stipendium wird von der deutschen Robert-Bosch-Stiftung, der ERSTE Stiftung aus Wien und dem "Balkan Investigative Reporting Network" (BIRN) vergeben. So sind aufwendige Reportagen über die harte soziale Realität auf dem Balkan entstanden. sueddeutsche.de veröffentlicht drei Texte, die von einer Journalisten-Jury ausgewählt und mit Geldpreisen bedacht wurden.

Serie: Soziale Realität Balkan (2): Enis Demirovic arbeitet auf einer Baustelle in Serbien - einem Land, das ihm fremd ist. Deutschland musste er verlassen.

Enis Demirovic arbeitet auf einer Baustelle in Serbien - einem Land, das ihm fremd ist. Deutschland musste er verlassen.

(Foto: Foto: Momir Turudic)

Momir Turudic wurde 1964 im serbischen Cacak geboren. Er arbeitet für die serbische Wochenzeitung "Vreme".

Enis trägt blonde Strähnen im Haar und einen großen Ohrring. "Jeder sagte: 'Hey, schau dir mal den Zigeuner an, was glaubt der denn, wer er ist?'" In Deutschland habe niemanden gekümmert, wie er aussieht, sagt Enis. "Keiner hat ein Problem mit meinem Look gehabt."

Aber Enis ist nicht mehr in Deutschland. In einem Café in Bujanovac, einer verarmten Stadt in Südserbien nahe der Grenze zum Kosovo, trifft er sich mit anderen jungen Roma, und alle plaudern auf Deutsch. Es ist die Sprache des Landes, in dem sie geboren sind oder viele Jahre gelebt haben. Ihre Familien sind in den neunziger Jahren nach Deutschland gezogen, als auf dem Balkan Krieg war. Manche von ihnen kehrten freiwillig zurück, manche nur unter Zwang.

Der 19-jährige Enis Demirovic erinnert sich, wie geschockt er war, als er wieder nach Serbien kam. "Ich habe tagelang geweint", sagt er. "Ich konnte nicht akzeptieren, dass ich alles verloren hatte. Dies hier war eine komplett andere Welt."

"Ich hatte Angst vor allem"

Enis ist in Wuppertal zur Grundschule gegangen. Als er nach Serbien zurückgekehrte, brach er die Schule ab, wie die meisten Rückkehrer-Kinder. "Ich konnte nicht mal die Sprache und hatte Angst vor allem", erinnert er sich.

Enis sieht entspannt aus, wenn er unter seinen Freunden im Café sitzt. Aber auf einer Baustelle, wo er Zementsäcke ablädt, lächelt er wenig. Sie liegt im Roma-Viertel der Stadt, wo die Straßen von ärmlichen, abbruchreifen Häusern gesäumt sind. Die meisten Rückkehrer landen in Siedlungen und Häusern wie diesen, nicht nur in Bujanovac.

Enis sagt, keiner in seiner Familie habe eine feste Arbeit, aber sie wollten auch nicht um Jobs betteln. "Ich bin nicht mehr so traurig. Richtig glücklich bin ich aber nur, wenn ich an Deutschland denke. Manchmal träume ich auf Deutsch. Ich träume davon, zurückzugehen."

Flucht in die Kriminalität

Tausende junger Roma, die nach Serbien gegangen sind oder geschickt wurden, erzählen eine ähnliche Geschichte. Sie haben die guten Schulen, die komfortablen Wohnungen in Deutschland zurückgelassen. In Serbien ist ihr Leben oft hoffnungslos. Kriminalität ist für einige der einzige Weg, aus dieser Situation herauszukommen. Es gab auch Selbstmord.

Obwohl die Regierung Hilfsstrategien ausgearbeitet hat, obwohl viele Nichtregierungsorganisationen kurzfristige Hilfsprojekte anbieten, gibt es nicht genug Geld, um eine langfristige Eingliederung zu unterstützen.

Abgeschoben

Viele hunderttausend Menschen haben Serbien in den neunziger Jahren verlassen, auf der Flucht vor Armut und Kriegen. Die meisten sind in den EU-Staaten gelandet. Viele haben Asyl beantragt. Und sogar diejenigen, die abgewiesen wurden, mussten lang nicht nach Serbien zurück, wegen der politischen Instabilität des Landes und den Sanktionen gegen das Milosevic-Regime.

Nach dem Sturz Slobodan Milosevics am 5. Oktober 2000 aber hat sich die Lage geändert. In den folgenden Jahren hat Serbien Abkommen mit den meisten EU-Ländern unterzeichnet, worin das Land sich verpflichtet, jene Serben aufzunehmen, die die Bleibe-Kriterien im Ausland nicht erfüllen.

Zoran Panjkovic vom Ministerium für Menschen- und Minderheitenrechte schätzt, dass etwa 25.000 Rückkehrer zu diesem Schritt gezwungen wurden. Etwa doppelt so viele sollen freiwillig gegangen sein. Unklar ist, wie viele noch abgeschoben werden. Im Jahr 2003 schätzte der Europarat, dass es zwischen 50.000 und 100.000 sein könnten, aber in den vergangenen Jahren war auch von 150.000 Personen die Rede.

Es gibt kein Zurück

Etwa 70 Prozent der Menschen, die bisher zurückgekehrt sind, kommen aus Deutschland, die übrigen vor allem aus Skandinavien, der Schweiz, den Niederlanden und anderen westeuropäischen Staaten. 60 bis 70 Prozent von allen sind Schätzungen zufolge Roma.

Serie: Soziale Realität Balkan (2): Roma, die aus Deutschland abgeschoben werden, müssen oft in Siedlungen wie Mirijevsko Brdo in Belgrad hausen.

Roma, die aus Deutschland abgeschoben werden, müssen oft in Siedlungen wie Mirijevsko Brdo in Belgrad hausen.

(Foto: Foto: Momir Turudic)

Enis' Familie ist freiwillig zurückgekehrt. Sonst hätte sie die Abschiebung riskiert, mit all ihren Folgen. Sie hätte in Zukunft nicht mehr in ein EU-Land einreisen dürfen und außerdem den größten Teil ihres Eigentums in Deutschland verloren.

Genau das ist Enis' Freundin aus Bujanovac passiert, der 16-jährigen Natalija Elezovic. Die deutsche Polizei hatte 2004 eines Morgens an die Tür ihrer Familie in Frankfurt geklopft. "Ich war gerade aufgestanden um mich für die Schule fertig zu machen, aber sie sagten, wir müssten gehen", erinnert sich Natalija. "Drei Stunden später saßen wir in einem Flugzeug nach Serbien."

Reise ohne Rückkehr

Das Mädchen war damals elf Jahre alt. "Ich habe erst nicht verstanden, dass das endgültig war. Aber als wir in Serbien ankamen, in Bujanovac, habe ich realisiert, dass es kein Zurück gibt."

Pavao Hudik, Psychologe vom Südost-Europa Kultur e. V., einer Berliner Organisation, die Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien hilft, sagt, die meisten jungen Rückkehrer würden aus einer Gesellschaft herausgerissen, in die sie sich gut integriert hätten. "Was offiziell 'Rückkehr' genannt wird, sehen sie als Exil", sagt er. "Serbien wie auch jeder andere Balkanstaat ist ein fremdes Land für sie."

Das Wort "Duldung" löst bei den meisten dieser Menschen, die noch in Deutschland sind, Unbehagen aus, denn eine Duldung ist nur eine Aussetzung der Abschiebung. Wer geduldet ist, darf nicht arbeiten oder auf die Universität gehen. Sanela Selimagic, Assistentin im Beratungszentrum der Internationalen Organisation für Migration (IOM), erklärt, wie man aus dieser Situation herauskommt: "Um vom Duldungsstatus zum normalen Status aufzusteigen, muss man die Sprache lernen oder Willen zur Integration zeigen - und dafür gibt es viele Möglichkeiten."

"Am Ende müssen sie gehen"

Trotzdem nutzten viele Flüchtlingsfamilien diese Möglichkeiten nicht, sie seien zufrieden mit den Sozialleistungen, die sie bekommen. "Sie erwarten, dass ihr Status endlos verlängert wird, weil ihre Kinder in Deutschland geboren wurden und hier zur Schule gehen", sagt Sanela. "Aber die Gesetze werden strenger. Die Wirtschaftskrise betrifft jeden und Sozialleistungen werden gekürzt, genauso wie das Bleiberecht eingeschränkt wird", erklärt sie. "Am Ende müssen sie gehen."

Dieses Schicksal erwartet nun Ceca, Anka und Vesna Nikolic. Die drei Roma-Mädchen sitzen auf einer Bank im Berliner Preußenpark und hören serbische Volksmusik und Madonna auf ihren CD-Playern. Ihre Großmutter, bei der sie leben, hat entschieden, sie nach Serbien zurückzubringen. "Wir werden dorthin gehen, wir müssen", sagt Ceca. "Aber wir haben ein bisschen Angst. Alles dort ist so komisch."

Mit 17 Jahren hat Vesna von ihrer Familie in Serbien schon erfahren, dass sie einen Jungen gefunden haben, den sie heiraten soll. Ihr gefällt das nicht, weil sie ihre Ausbildung weitermachen will. Alle drei Mädchen sprechen mit böser Vorahnung von dem kleinen Haus in Zrenjanin in Nordserbien, das sie mit drei anderen Familien teilen werden - nicht vergleichbar mit der Zwei-Zimmer-Sozialwohnung in Berlin, in der sie mit ihrer Großmutter leben.

Kein Geld für ein Zeugnis auf Serbisch

Dennoch könnte es sein, dass sie sich noch glücklich schätzen werden. Vor zwei Jahren musste der 40-jährige Hasan (Name geändert) seine komfortable Wohnung in Berlin gegen die schäbige Roma-Gemeinde in Mirijevsko Brdo in Belgrad tauschen. Die ganze Ansiedlung mit ihren heruntergekommenen Häusern aus Ziegeln, Blech und Karton hat nur eine asphaltierte Straße.

Hasan wohnt mit seinem 15-jährigen Sohn Aron (Name geändert) und der achtköpfigen Familie seines Bruders in einem dieser Häuser. Der Wind trägt den Gestank von den Müllhalden ins Haus, die die Siedlung umgeben. "Ich vermisse Berlin, aber für Aron ist es noch viel schlimmer", sagt Hasan. "Bevor wir hierherkamen hatten wir keine Ahnung, dass es überhaupt Orte wie diesen gibt."

Aron sitzt neben seinem Vater und schweigt die meiste Zeit. "Sein Serbisch ist nicht gut, und er schämt sich auch ein wenig, hier zu sein", sagt Hasan. "Aber sein Deutsch ist perfekt." Aron hat die sechste Klasse in Deutschland bis zu Ende besucht, aber in Belgrad geht er nicht zur Schule. Als Hasan seinen Sohn einschreiben wollte, hieß es, Aron müsse zuerst Serbisch lernen. "Man hat mir auch gesagt, ich müsse seine Zeugnisse aus Deutschland übersetzen und beglaubigen lassen", sagt Hasan. "Das war zu teuer, ich hatte kein Geld und keine Zeit."

"Mein Bruder ist nicht darüber weggekommen"

Serie: Soziale Realität Balkan (2): Viele Roma-Kinder, die in Deutschland die Schule besucht haben, brechen sie ab, wenn sie nach Serbien zurückkommen. Sie verstehen die Sprache dort nicht.

Viele Roma-Kinder, die in Deutschland die Schule besucht haben, brechen sie ab, wenn sie nach Serbien zurückkommen. Sie verstehen die Sprache dort nicht.

(Foto: Foto: Momir Turudic)

Jetzt hilft Aron seinem Vater, alten Krempel auf einem Markt in der Nähe zu verkaufen. "Was können wir schon machen?" fragt Hasan. "Er wird sich daran gewöhnen. Andere Kinder in diesem Viertel leben genauso."

Mehr als 70 Prozent der Roma-Kinder in Serbien schließen nie die Grundschule ab. Aber mehr als 90 Prozent der Rückkehrer-Kinder haben der serbischen Zulassungsbehörde zufolge in ihrer Zeit im Ausland die Schule besucht. Die Organisation Grupa 484 hat den Werdegang der Kinder aus 64 Rückkehrer-Familien im Belgrader Stadtteil Palilula untersucht: 62 Prozent von ihnen haben die Schule nicht weiter besucht, nachdem sie nach Serbien kamen. Wie viele Kinder sich an einer Schule eingeschrieben und sie dann abgebrochen haben, ist unbekannt.

Natalija Elezovic ist ein Mädchen, das nicht aufgeben wollte. Einige Monate nach ihrer Rückkehr lernte sie Serbisch zu sprechen, zu lesen und zu schreiben, und sie hat sich an einer Schule in Bujanovac eingeschrieben. Ihr kam das Schulsystem seltsam vor, weil serbische Schüler anders als deutsche viel auswendig lernen müssen. Es gibt auch keinen Schwimmunterricht und keine Hauswirtschaftslehre.

"Ich wollte weiterkommen, wollte etwas mit meinem Leben anfangen, und es gab Leute, die mir geholfen haben", sagt Natalija. Sie schloss die Grundschule mit exzellenten Noten ab und besucht nun seit zwei Jahren eine weiterführende Schule. Sie will Medizin studieren und einen guten Job bekommen. Obwohl sie sich an Serbien gewöhnt hat, bezeichnet Natalija Deutschland noch immer als ihre Heimat, in die sie gern zurückkehren würde.

"Manche Menschen zerbrechen daran"

Allerdings machen nicht nur die Sprache, die Wohnsituation und Schulfragen vielen Rückkehrern das Einleben unmöglich, sondern auch die anderen Sitten in Serbien. "Ich wäre fast von einem Auto angefahren worden, als ich in Belgrad über die Straße ging", erinnert sich Milan (Name geändert). Dem 20-jährigen Rückkehrer war nicht klar, dass serbische Autofahrer Zebrastreifen komplett ignorieren. "In Deutschland hält jedes Auto an, um Fußgänger über die Straße zu lassen. Hier schrie ein Polizist, der in der Nähe stand: 'Aus dem Weg, Du Idiot! Warum hast du das Auto nicht vorbeigelassen?'" erinnert er sich lachend.

Sonst lacht Milan selten. Sein Bruder hat sich umgebracht, zwei Jahre, nachdem er aus Deutschland zurückkam. Er war 16 Jahre alt. "Du gehst mit Freunden weg, du gehst zur Schule, alles scheint normal zu sein, und dann ist im Bruchteil einer Sekunde alles vorbei und du landest hier. Manche Menschen zerbrechen daran", sagt Milan leise.

"Viele Leute in dieser Siedlung kommen aus Deutschland. Am Anfang haben wir uns getroffen und über Deutschland gesprochen. Darüber, wie wir zurückgehen könnten. Aber mit der Zeit haben wir uns daran gewöhnt. Die Mädchen heiraten und bekommen Kinder, die Jungen verkaufen irgendwas oder finden Arbeit für Ungelernte. Aber mein Bruder ist nicht darüber weggekommen."

Die Koordinatorin des Zentrums für die Rechte von Romafrauen im südserbischen Nis, Marija Denic, sagt, viele junge Roma-Heimkehrer litten unter akuten Depressionen. "Sie kapseln sich ab, allein oder in Kleingruppen, und sprechen nur darüber, zurückzugehen." Zorica Zivojinovic, Programmkoordinatorin bei Grupa 484, sagt, es brauche normalerweise "Monate und Jahre" intensiver Arbeit, solchen Jugendlichen beim Eingewöhnen zu helfen. Das koste viel Geld.

Hilfsprojekte zu wenig bekannt

Deutschland und Serbien bieten ebenso wie viele Organisationen in beiden Ländern verschiedene Hilfsprojekte für Rückkehrer an. Aber die Hilfen sind zeitlich begrenzt, und nur wenige Rückkehrer scheinen zu wissen, dass es überhaupt solche Projekte gibt.

Deutschland und Serbien arbeiten aber auch nur so lange zusammen, bis die Rückkehrer in Serbien ankommen. Weiteren Austausch oder eine gemeinsame Datenbank gibt es nicht. Serbien hat auch keine zentrale Datenbank, in der die Rückkehrer erfasst werden. So können keine Informationen über Hilfsangebote an alle verteilt werden. Die meisten Rückkehrer müssen selbst herausfinden, wie und wo sie Hilfe bekommen - eine Aufgabe, die sie mit der Arbeits- und Wohnungssuche unter einen Hut bringen müssen.

Zoran Panjkovic vom serbischen Menschenrechtsministerium sagt, die Regierung versuche den Rückkehrern und ihren Kindern zu helfen. Zum Beispiel, indem sie Schuleinschreibung vereinfache, die Beglaubigung von Dokumenten für Sozialleistungen erleichtere und Sprachkurse für Kinder organisiere. Für Langzeit-Programme aber fehle das Geld. EU-Mittel für die Reintegration von Rückkehrern seien bisher nicht in Serbien angekommen, weil das Land noch keine landesweiten Studien durchgeführt habe, um den Finanzbedarf abzuschätzen, sagt Panjkovic.

Viele Rückkehrer fühlen sich von beiden Ländern allein gelassen. "Am schwierigsten ist es, zu verstehen, dass der Staat, den du als deine Heimat betrachtest, es nicht erwarten kann, dich loszuwerden", sagt Milan. "Und der Staat, in den du zurückgekehrt bist, hat nur eine Botschaft: 'Warum bist du da? Wir brauchen dich nicht.' Niemand will uns. Wir gehören nirgendwo hin."

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