Serie "Deutscher Herbst":Bonn riskiert die Ermordung Schleyers

60 Jahre Bundesrepublik - RAF-Terror

Mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten will die RAF unter anderem Andreas Baader (2.v.r.) und Gudrun Ensslin (r.) freipressen.

(Foto: dpa)

Heute vor 40 Jahren: Der Arbeitgeberpräsident weiß, wenn die Bundesregierung nicht mit den Entführern kooperiert, ist er tot.

Robert Probst

SZ-Serie "Deutscher Herbst"

Vor 40 Jahren stand die Bundesrepublik vor ihrer bislang größten Herausforderung. Die Rote Armee Fraktion (RAF), die im April 1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback und im Juli den Bankier Jürgen Ponto ermordet hatte, entführte den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Ziel war es, die RAF-Anführer und andere Kampfgenossen aus den Gefängnissen freizupressen. Die SZ dokumentiert die dramatischen Tage der Schleyer-Entführung vom 5. September bis zum 19. Oktober, für die sich der Begriff "Deutscher Herbst" eingeprägt hat. Hinzu kommen politische Einschätzungen von damals und heute sowie neue Erkenntnisse der Zeitgeschichte. Die bisher erschienenen Folgen im Überblick.

Tag 9: Dienstag, 13. September - "Algerien, Vietnam, Libyen, VR Jemen, Irak"

Die Bundesregierung bezieht erstmals die RAF-Gefangenen indirekt in die Verhandlungen ein. Beamte des BKA treffen sich in Gefängnissen mit den RAF-Häftlingen, die freigepresst werden sollen. Auf Fragebögen sollen sie notieren, ob sie bereit sind, sich ausfliegen zu lassen und wenn ja, wohin. Die meisten machen zur Bedingung, sich erst mit ihren Kampfgenossen beraten zu wollen. Nur Andreas Baader notiert konkrete Ziele: "Algerien/Vietnam, Libyen, VR Jemen/Irak''.

Er schreibt dazu: "Wir meinen, dass die Bundesregierung die Länder, die in Frage kommen, um die Aufnahme ersuchen muss.'' Er versucht dem BKA-Beamten die Hoffnung zu machen, dass der Austausch "eine Entspannung für längere Zeit bedeuten'' würde. Eine Rückkehr der Freigelassenen nach Deutschland sei nicht geplant.

Bei der Trauerfeier für den ermordeten Fahrer Schleyers, Heinz Marcisz, in Köln warnt Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) die Bevölkerung davor, sich in "eine Hysterie hineinterrorisieren'' zu lassen. In der CSU wird eine Debatte um die Wiedereinführung der Todesstrafe geführt. Bayerns Innenminister Alfred Seidl hatte angeregt, Artikel 102 Grundgesetz ("Die Todesstrafe ist abgeschafft'') außer Kraft zu setzen und gesonderte Strafen für Mörder und Geiselnehmer einzuführen. SPD und FDP warnen vor einer Aushöhlung des Rechtsstaats.

"Deutscher Herbst"

Quellen und Literatur zur SZ-Serie über den RAF-Terrorismus 1977. Zur Übersicht

Die Entführer melden sich erneut bei Anwalt Payot, der Familie Schleyer und einigen Medien. Sie setzen "eine letzte frist'' bis 24 Uhr und beschweren sich über die "taktiererei'' und das "infame kalkuel der bundesregierung'': "es hat von seiten der bundesregierung in diesen 9 tagen keinen einzigen konkreten schritt gegeben, der die bereitschaft signalisiert haette, schleyer tatsaechlich auszutauschen.''

Der Große Krisenstab berät am Nachmittag über die Fragebogen-Aktion und beschließt als "positives Zeichen'' für die Entführer, Sondierungen mit Algerien und Libyen aufzunehmen. Das BKA stellt Payot die Fragebögen zur Verfügung.

Weiter heißt es: "Befragungen von uns genannten Zielländern, welche Flugbesatzungen zumutbar sind, werden eingeleitet. Technische und kommunikatorische Schwierigkeiten sind erfahrungsgemäß zu erwarten.'' Auch das fünfte Ultimatum verstreicht.

Tag 10: Mittwoch, 14. September - "Ben Wisch" auf Reisen

Der Bayernkurier, die Parteizeitung der CSU, plädiert als Antwort auf das Schleyer-Attentat für "härteste Maßnahmen". Unter anderem wird gefordert: "Schluß mit dem Zwei-Klassen-Haftrecht in Stammheim" und ein Ende des "Treibens der sogenannten Vertrauensanwälte".

Die amtliche Nachrichtenagentur der DDR, ADN, diagnostiziert in einem Bericht politische Führungsschwäche in Westdeutschland. Es sei von vielen Seiten zu hören, "daß die Tätigkeit der Regierung Schmidt durch die Affäre Schleyer weitgehend lahmgelegt wurde". Die Situation werde nun genutzt "für eine zusätzliche Stimmungsmache gegen alles, was 'links' zugeordnet werden kann".

Die Entführer deponieren erneut ein Videoband des Arbeitgeberpräsidenten - diesmal in einem Bonner Hotel. Es ist an den Büroleiter der Nachrichtenagentur AFP adressiert. Die Terroristen wollen mit diesem Band die Öffentlichkeit erreichen und so die Nachrichtensperre umgehen.

Schleyer sitzt wieder vor dem RAF-Emblem und spricht in die Kamera. Er prangert die "Tricks" und "Fehler" des BKA an, das nur auf Zeit spiele, um das Versteck Schleyers zu finden. "Die Aufspürung meiner Entführer würde auch allerdings mein Ende sein. Denn die Entführer werden gezwungen, dieses herbeizuführen. (. . .) Ich bin in großer Sorge, daß die Fehler, die begangen wurden, durch mein stilles Ende abgedeckt werden müssen." Auch mit Vermittler Payot sei man unzufrieden, lassen die Entführer durch Schleyer ausrichten. Seiner Familie teilt er mit, es gehe ihm "den Umständen entsprechend gut", er sei gesund und "voll im Besitz meiner geistigen Kräfte".

Keine leichte Aufgabe

In Genf gibt der Kontaktmann Payot eine Presseerklärung heraus. Der Anwalt, der anfangs glaubte, seine "humanitäre Mission" sei innerhalb weniger Stunden erledigt, gibt nun bekannt, "noch genügende Gründe zu haben, um an die Fortsetzung des Auftrags zu glauben".

Der Staatsminister im Kanzleramt, Hans-Jürgen Wischnewski, wegen seiner guten Kontakte zur arabischen Welt "Ben Wisch" genannt, macht sich auf den Weg nach Libyen und Algerien, um zum Schein zu fragen, ob die Regierungen die Häftlinge, die freigepresst werden sollen, aufnehmen würden.

In Stuttgart gehen Unionspolitiker mit harten Worten gegen den Schauspieldirektor des Staatstheaters, Claus Peymann, vor. Dieser gilt ihnen als RAF-Sympathisant, nicht zuletzt weil er einen Spendenaufruf für eine Zahnbehandlung von Gudrun Ensslin unterstützt und selbst 100 Mark gegeben hatte. Wer sich derart offen zur Terroristenszene bekenne, habe an einer mit Steuergeld subventionierten Bühne nichts zu suchen, schreibt der CDU-Kreisverband Biberach. Die Gewerkschaft der Polizei in Baden-Württemberg ruft alle Beamten dazu auf, das Theater nicht mehr zu besuchen. Peymann weist den Vorwurf, ein RAF-Sympathisant zu sein, vehement zurück.

Die Serie erschien in einer ersten Version 2007 - und wurde für die Neuveröffentlichung leicht überarbeitet und erweitert. Die Rechtschreibung in Zitaten entspricht der Schreibweise der damaligen Zeit.

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