Serie: Armut in Deutschland (3):Das Verstummen der Armen

Hochkonjunktur für Schuldzuweisungen und Versprechungen: Am Reizthema Armut kommt derzeit keine deutsche Partei vorbei. Doch ausgerechnet die Betroffenen sind immer weniger an der Debatte beteiligt.

Irene Helmes

Das neu erwachte Schreckgespenst der deutschen Politik hat viele Gesichter: Das einer Rentnerin, die sich kaum mehr die Heizkosten leisten kann. Einer Migrantenfamilie ohne Geld für eine ordentliche Wohnung. Eines Jugendlichen ohne Schulabschluss, eines Arbeiters mit Dumpinglohn. Eines Kindes einer Alleinerziehenden, die ihm weder gesundes Essen noch Bücher kaufen kann.

Serie: Armut in Deutschland (3): Wenn die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter wächst, könnten sich einzelne Gesellschaftsschichten in eigene Universen zurückziehen.

Wenn die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter wächst, könnten sich einzelne Gesellschaftsschichten in eigene Universen zurückziehen.

(Foto: Foto: ddp)

Angenehmer wäre es, nur über den Konjunkturaufschwung und die sinkenden Arbeitslosenzahlen zu reden. Doch der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung dokumentiert eine wachsende Misere, die im Bundestagswahlkampf 2009 zum brisanten Thema werden könnte. Denn: Der größte Teil der Bevölkerung empfinde die gegenwärtige Verteilung des Reichtums als ungerecht, konstatiert der Berliner Demokratieforscher Bernhard Weßels im Gespräch mit sueddeutsche.de - das Thema könne somit Wahlen und politische Mehrheiten mitentscheiden.

Der Streit um die Stimmen der Armen ist bereits entbrannt. Prekarisierung und die "working poor" werden zu Kampfbegriffen. Doch besonders auf einen Aspekt stürzen sich Politiker am liebsten: "Kinderarmut ist regelrecht zum Modethema avanciert", sagt der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge zu sueddeutsche.de. "Kinder kann man nicht selbst für ihr Schicksal verantwortlich machen, sie gelten als würdige Arme". Fremder Hilfe würdiger als diejenigen, "denen man die Schuld selbst in die Schuhe schiebt und denen man vorwirft, dass sie zu faul seien, nicht mit Geld umgehen könnten oder dass sie sich in der Hängematte des Sozialstaats ausruhten", so Butterwegge.

Es geht um das Welt- und Menschenbild der Parteien

An der Frage, wem wie und wie lange geholfen werden soll - und woher das Geld dafür kommen soll - scheiden sich die Geister. "Gerechtigkeit ist das große Thema für alle Parteien", so Weßels. Aber welche Gerechtigkeit? In der Armutsdebatte geht es um nichts weniger als das Welt- und Menschenbild der Parteien.

Mit dem Slogan "Sozial geht nur national" geht die rechtsextreme NPD auf Wählerfang und verspricht eine "nationale Antwort auf die Globalisierung". Beschworen wird eine Gerechtigkeit für Deutsche - für Migranten hätte solch ein Sozialstaat keinen Platz. In dieser Ideologie verläuft der Bruch weniger zwischen "Oben und Unten" als zwischen "Innen und Außen", so Butterwegge, der seit vielen Jahren über den Rechtsextremismus forscht.

"Hartz IV muss weg!", ruft von der anderen Seite des politischen Spektrums die Linkspartei, denunziert das Arbeitslosengeld II als "Armut per Gesetz". Mit der Forderung nach Mindestlöhnen steht sie zwar in einer Reihe mit Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und Grünen. Doch sie will viel mehr: Eine radikale, solidarische Umverteilung, die der Arm-Reich-Schere den Garaus machen soll. Schuld an den Missständen gibt sie der Globalisierung, Großkonzernen und neoliberalem Sozialabbau durch die Regierung. Ziele sind höhere Gehälter, höhere Renten, womöglich "ein bedingungsloses Grundeinkommen" für alle.

Windeln und Reitpferde

Unfinanzierbar und weltfremd sei das, hört man die politische Mitte schimpfen. Während ihre Mitglieder und Wähler in Scharen davonlaufen, ringen die Volksparteien um vorzeigbare und zugleich realisierbare Maßnahmen.

Was sowohl SPD als auch Christdemokraten im Gegensatz zur Linkspartei "relativ klar gestrichen haben, sind Ansprüche auf soziale Gleichheit", sagt Weßels. Die CDU baut wie eh und je auf Chancengleichheit und Leistungsprinzip - dazu auf ein eher karitatives Auffangnetz. Von ihrem einstigen Gleichheitsanspruch hätten sich mittlerweile auch die Sozialdemokraten mit Debatten über den vorsorgenden Sozialstaat wegbewegt. Dieses Konzept laufe darauf hinaus, "die Leute zu befähigen und am Ende doch beim Leistungsprinzip zu landen".

Lesen Sie im zweiten Teil, wie die Parteien über die Armutsdebatte ihre eigene Politik zu legitimieren versuchen.

Das Verstummen der Armen

Um die Bürger zu beruhigen, werden Steuer- und Beitragssenkungen versprochen, doch was die große Koalition bislang zur Armutsbekämpfung tut, stößt auf viel Kritik. Butterwegge fasst einige zentrale Angriffspunkte zusammen: "Weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein" sei etwa die einzige bisher in Kraft getretene Maßnahme gegen Kinderarmut, die Entfristung des Kinderzuschlags zum 1. Januar 2008. Auch würden Arme, "die jeden Euro und jeden Cent in den alltäglichen Konsum stecken", durch die 2007 erhöhte Mehrwertsteuer besonders belastet. "Auf Windeln muss der volle Mehrwertsteuersatz bezahlt werden - auf Reitpferde hingegen nicht", so Butterwegge.

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(Foto: Grafik: sueddeutsche.de)

Er kritisiert eine "Steuerpolitik nach dem 'Matthäus-Prinzip'": Denjenigen, die viel haben, werde noch mehr gegeben - und umgekehrt. Eklatantes Beispiel sei die Entlastung der "Kinder von Millionären und Milliardären" von der betrieblichen Erbschaftssteuer. Auch in den aktuellen Vorschlägen könne man Heuchelei erkennen: Von Erleichterungen etwa bei der Einkommenssteuer hätten Arme nichts.

Die Koalition versuche, über die Armutsdebatte ihre eigene Politik zu legitimieren - nach dem Motto, "sonst wäre es noch schlimmer gekommen".

So streiten Politiker und Experten intensiv über Ursachen und Konsequenzen der Armut in Deutschland. Doch ausgerechnet die Betroffenen sind an der öffentlichen Debatte kaum beteiligt. Die Wahlbeteiligung von Menschen mit einem Haushaltseinkommen unter 1000 Euro etwa liegt 20 bis 30 Prozent unter der Wahlbeteiligung höherer Einkommensgruppen, sagt Weßels.

Bei denen, die bei der Bundestagswahl 2005 noch zur Wahl gingen, ließen sich deutliche Verschiebungen beobachten, erklärt die Münchner Politologin Manuela Glaab im Gespräch mit sueddeutsche.de. Der damaligen Linkspartei.PDS gelang es etwa, fast eine halbe Million Nichtwähler für sich zu gewinnen, die beiden großen Volksparteien dagegen mussten große Verluste besonders bei den Arbeitslosen hinnehmen. Sozialer Protest als Wahlmotiv.

Fataler Rückzug

Glaab gibt zu bedenken, dass das Wahlverhalten von Armen in Deutschland schwer zu analysieren sei, denn Daten seien rar, Armut tauche als Kategorie in den Wahluntersuchungen nicht direkt auf. So sei es auch nicht leicht, verlässliche Zahlen zum Erfolg der NPD bei dieser Wählergruppe zu finden. Rechtsextremismus-Experte Butterwegge ist dennoch besorgt: "Das irrationale Reagieren auf Abstiegsängste hat in Deutschland immer zu einem Rechtsruck geführt."

Weßels fürchtet statt der Radikalisierung mehr die Nichtbeteiligung der Armen. Misstrauen gegen Politiker sei in allen Bevölkerungsschichten üblich - die Enttäuschung Schlechtergestellter in Bezug auf die etablierten Parteien also erwartbar. Doch ein zweiter Trend führe zu "einer paradoxen Situation". Entscheidend sei nämlich, "dass diejenigen, die mit der Politik unzufrieden sind und eigentlich auch etwas ändern wollen würden, sich zurückziehen - das ist das Fatale". Frage man danach, ob einfache Bürger überhaupt Einfluss auf die Politik hätten, verneinen das laut Weßels inzwischen 80 Prozent der Befragten aus den unteren Einkommensgruppen - im Vergleich zu kaum weniger erschreckenden 40 Prozent der Wohlsituierten.

Lesen Sie im letzten Teil, welche verheerenden Folgen der Rückzug der Armen haben könnte.

Das Verstummen der Armen

Glaab spricht von einer "doppelten Entkopplung von der politischen Teilhabe" - sowohl von konventionellen Beteiligungsmöglichkeiten wie Wahlen, als auch von Formen "unkonventioneller Partizipation", also etwa Bürgerinitiativen, Demonstrationen und Unterschriftenaktionen. All das setzte voraus, "dass man politisch interessiert und informiert ist" und hänge stark mit Bildung und beruflichem Status zusammen. Der Befund der Forschung sei eindeutig, dass sich die ressourcenstarken Teile der Bevölkerung "deutlich stärker beteiligen". Dadurch haben die Bessergestellten auch "erheblich bessere Chance, ihre eigenen Interessen zu vertreten".

In dieses Szenario passt auch eine Anmerkung im Armutsbericht, der Soziologe Michael Hartmann habe in den vergangenen Jahren "eine stärkere Rekrutierung der 'politischen Elite' in Deutschland aus höheren sozialen Schichten als früher festgestellt". Wie sehr Armut und niedriger sozialer Status im politischen Leben als faktische Zugangsbarriere wirken und wie sehr sich die Betroffenen durch mangelndes Selbstvertrauen selbst ausschließen, beantwortet der Bericht nicht.

Parallelgesellschaften der anderen Art

Am Ergebnis gibt es jedoch wenig zu deuteln. Es laufe darauf hinaus, befindet Weßels, dass eine große Bevölkerungsgruppe "mehr oder weniger den Mund nicht richtig aufmacht oder nur zur Hälfte aufmacht und ansonsten davon ausgeht, sie kann an der Politik sowieso nichts ändern". Und wenn Arme als Wählergruppe ohnehin kaum erreichbar und relevant seien, fehle es entsprechend auch an Druck und Impulsen für die Regierenden.

Butterwegge befürchtet, die Konsequenzen der beschriebenen Trends könnten verheerend sein. Die Bundesrepublik sei in Zeiten des Wirtschaftswunders aufgebaut worden, mit dem wirtschaftlichen Wohlstand als wesentlichem Faktor dafür, dass die Bevölkerung die Demokratie nach der Befreiung vom Nationalsozialismus akzeptierte.

In den vergangenen 60 Jahren hätten die Deutschen die Demokratie "mit dem Modell der sozialen Marktwirtschaft identifiziert, mit Wohlstand, damit, dass es allen bessergeht, dass alle etwas vom Kuchen abbekommen". Wenn dieses Versprechen nun aufgegeben werde, die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter wachse, könnten sich einzelne Gesellschaftsschichten in eigene Universen zurückziehen und Parallelgesellschaften von Armen und Reichen bilden - eine Gefahr für den sozialen Frieden. Umgekehrt: "Die Armut zu bekämpfen hieße auch, die Demokratie funktionsfähiger und eine funktionierende Bürgergesellschaft erst möglich zu machen".

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