Wäre es nach Serbiens Regierenden gegangen, hätten sie es am Montag vielleicht Hunde und Katzen regnen lassen. Doch tatsächlich strahlte die Sonne, und so setzten sich viele Studentinnen und Studenten in Pullover und T-Shirt auf die Straße, die sie an diesem Tag blockierten.
Es ist nicht einfach eine Straße, die Zehntausende Studierende und andere serbische Bürger am Montag rund um die Uhr bis Dienstag zehn Uhr blockieren wollten, es ist die „Autokomanda“. Der wohl wichtigste Verkehrsknotenpunkt bindet die Autobahn Belgrad-Zagreb und das Umland von Belgrad mit Auf- und Abfahrten an Serbiens Hauptstadt an. Die Blockade ist ein Höhepunkt einer Protestwelle Hunderttausender Serben gegen Missstände im Land und gegen das autoritäre Regime. Studentischen Vertretern zufolge sollen weitere, radikalere Proteste folgen.
Serbien ist zwar EU-Beitrittskandidat, hat aber auf dem Weg zum Rechtsstaat und zur Demokratie unter dem seit mehr als einem Jahrzehnt als Vize-Premier, Premier oder Präsident dominierenden Politiker Aleksandar Vučić eher Rück- als Fortschritte gemacht. Serbiens Wahl im Dezember 2023 etwa war massiv manipuliert und offenbar teilweise gefälscht worden. Gleichzeitig verstanden es Vučić und seine Serbische Fortschrittspartei (SNS), ihre Herrschaft über das zentrale Balkanland zu zementieren – mittels Klientelpolitik, gefügigen Richtern, Fernsehsendern und Zeitungen, die fast nur Regierungspropaganda wiedergeben.
Den Tod von 15 Menschen halten sie für die Folge der grassierenden Korruption
So scheint es jedenfalls. Doch gleichzeitig haben Hunderttausende Serben und Serbinnen seit 2020 aus verschiedenen Gründen protestiert – etwa gegen Gewalt in der Gesellschaft und gegen ein Regime, das politische Gegner dämonisiert. Oder gegen Rio Tinto, den britisch-australischen Mischkonzern. Dessen Projekt, in Serbien Lithium abzubauen, führte zu so massiven Protesten, dass die Regierung Anfang 2022 das Vorhaben „endgültig“ beerdigte – nur um es im Juli 2024 mit Unterstützung der EU und Bundeskanzler Olaf Scholz in einem skandalösen Verfahren wieder aufzunehmen. Sogleich kam es zu neuen Massenproteste.
Dann kam der 1. November 2024. In Novi Sad stürzte das Vordach des Bahnhofs ein, keine vier Monate zuvor war er nach einer Renovierung nach angeblich höchsten „europäischen Standards“ wiedereröffnet worden. Die Trümmer töteten 15 Menschen. „Der Tod dieser 15 Menschen ist kein Zufall, sondern direkte Folge der bei uns alles umfassenden Korruption“, sagt die 24 Jahre alte Studentin Marta Dobošarević, deren Fakultät für Tiermedizin nur hundert Meter vom Autokomanda-Verkehrskreuz entfernt ist und den Studenten an diesem Blockadetag als Versorgungszentrum dient.„Wir fordern die Veröffentlichung aller relevanten Dokumente, die Bestrafung aller Verantwortlichen, das Ende aller Repressionen gegen protestierender Studenten und 20 Prozent mehr Geld für die bei uns seit Jahren vernachlässigte Bildung“, sagt sie.

Pünktlich um 11.52 Uhr, dem Zeitpunkt der Katastrophe, beginnen an der Autokomanda Zehntausende Menschen 15 Schweigeminuten, im Gedenken an die 15 Toten von Novi Sad. Nur das Rauschen der nahen Autobahn ist zu hören, und ab und zu langes Hupen, mit der vorbeifahrende Fahrer ihre Unterstützung für die Studenten kundtun.
Vergeblich versuchte das Regime, die im November begonnenen Proteste mit in Serbien oft angewandten Methoden einzuschüchtern: durch bestellte Schläger, Vorladungen zu Verhören; mit Verunglimpfungen als angebliche „Hyänen“ und „Geier“ – so Vučić bei früheren Protesten über Gegner – oder als vom Ausland bezahlte Feinde Serbiens. Zum Repertoire gehören auch Drohungen, den Job oder Studienplatz zu verlieren.
Stattdessen weiteten sich die Proteste noch aus – erst recht, nachdem Dokumente belegten, dass das staatliche Transportinstitut CIP vor der Sanierung des Bahnhofs in Novi Sad angab, das Vordach müsse saniert und umfangreich umgebaut werden. Nach der Katastrophe aber stellten staatliche Inspektoren fest, im fraglichen Baubereich hätten „Kontrolle und Verifikation der Qualität aller Arten von Arbeiten und der Anwendung von Regeln, Standards und technischen Normen nicht stattgefunden“, wie Balkan Insight berichtete.

Den Studenten zufolge fehlen indes immer noch Hunderte Dokumente, sie haben den Verdacht, „dass ein großer Teil des Geldes nicht in die Sanierung flossen, sondern in die Taschen korrupter Beteiligter – und deshalb 15 Menschen starben“, sagt etwa Katarina Jevtić.
Die Tiermedizinstudentin und ihre Kommilitonin Marta Dobošarević begannen am 11. Dezember wie Tausende andere Studenten an Dutzenden Belgrader Fakultäten und Universitäten in Novi Sad, Niš und anderen Städten, ihre Universitätsgebäude zu besetzen und jeden Unterricht zu verhindern. Den Protest unterschrieben nicht nur über 4000 Professoren; er ergriff auch Schulen, die ihrerseits Streiks begannen, sodass die Regierung alle Schulen kurzerhand früher als vorgesehen zur wochenlangen Neujahrs- und Weihnachtspause schloss.
Präsident Vučić schwenkte um angesichts der an- statt abschwellenden Proteste. Er versprach etwa zinsgünstige Kredite für wohnungssuchende Studenten und erklärte zum 1. Januar den gesamten Nahverkehr in Belgrad für kostenlos. „Das sind alles billige Versuche, uns Studenten zu kaufen“, sagt Katarina Jevtić. „Aber wir lassen uns nicht kaufen.“ Nach Akademikern und Lehrern, Künstlern oder Rechtsanwälten unterstützen auch Unternehmer und Gewerkschaften die Studierenden. Zur Blockade der Autokomanda fahren selbst Bauern mit Traktoren vor, um die Studenten symbolisch zu unterstützen.
Doch wie geht es in Serbien weiter? Die Besetzung des Autokomanda-Verkehrsknotenpunkts „ist nur unsere erste radikale Protestaktion“, sagt Katarina Jevtić. Über weitere Proteste beraten Studentenvertreter bereits in Foren, in denen alle 31 Belgrader Fakultäten und die Kunsthochschule vertreten sind. Jevtić erzählt, dass sie wie viele andere junge Serben schon oft daran gedacht habe auszuwandern. „Dies ist die letzte Chance, hier etwas grundsätzlich zu ändern. Für mich und für viele andere.“