Serbien nach der Verhaftung von Mladic:Trügerische Ruhe

Als vor drei Jahren Radovan Karadzic verhaftet wurde, stand Belgrad nach Massenprotesten in Flammen. Ultra-Nationalisten prügelten auf Polizisten ein. Ratko Mladic wird noch mehr verehrt. Doch große Proteste bleiben nach dessen Festnahme aus - bislang. Der bekannte serbische Journalist Bosko Jaksic glaubt, dass sich seine Landsleute verändert haben. Und warnt.

Sebastian Gierke

Es fliegen Steine, Flaschen, Brandsätze. Junge Männer schlagen mit Eisenstangen auf Polizisten ein, Schaufenster gehen zu Bruch, Gebäude stehen in Flammen. Tagelang liefern sich Demonstranten Straßenschlachten in Belgrad. Tausende sind auf der Straße, es gibt Verletzte auf beiden Seiten, die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind überfüllt. Und all das, weil ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher verhaftet wurde. Es ist Ende Juli 2008, der ehemalige Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, sitzt seit wenigen Tagen im Gefängnis.

Am Tag nach der Verhaftung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Ratko Mladic verlieren sich in der Innenstadt von Belgrad nur wenige Demonstranten, es sind kaum serbische Fahnen zu sehen. Die Polizei zeigt Präsenz, es kommt zu einigen Festnahmen, doch die Lage ist immer unter Kontrolle.

"Und das, obwohl Mladic für die Nationalisten ein noch viel größerer Held ist als Karadzic." Der Journalist Bosko Jaksic klingt bei diesem Satz nicht überrascht. Er hatte nicht mit gewalttätigen Protesten gerechnet, erzählt er am Telefon. Überrascht war Jaksic vielmehr am Tag zuvor, als die Nachricht von der Verhaftung Mladics in der Redaktion der angesehenen serbischen Zeitung Politika einschlug "wie eine Bombe". Der bekannte Journalist lacht ein ungläubiges Lachen. "Nach fast 16 Jahren hat kaum noch einer an die Verhaftung geglaubt. Die meisten dachten, das wird nie passieren. Die Überraschung war gewaltig. So ähnlich wie vor ein paar Wochen, als die Nachricht von Osama bin Ladens Tod kam".

Die Verhaftung von Ratko Mladic nach 16 Jahren Flucht bewegt die Menschen in Serbien. Und die Angst vor Gewalt ist immer noch groß. Präsident Boris Tadic erklärte deshalb sehr bald nach der Festnahme, er werde nicht dulden, dass sich die Szenen von 2008 wiederholen. "Wer auch immer versucht, das Land zu destabilisieren, wird verfolgt und bestraft werden."

Bosko Jaksic ist sich sicher, dass die Drohungen Wirkung gezeigt haben. "Damals bei Karadzic haben die Ultra-Nationalisten noch darauf gezählt, dass sich die Regierung erst einmal auf dem rechten Auge blind zeigt. Das ist heute anders. Tadic will dieses Mal von Beginn an durchgreifen."

Doch für den Journalisten Jaksic ist das nicht der Hauptgrund für die relative Gelassenheit in der Bevölkerung. Er glaubt, dass sich die Menschen in Serbien in den vergangenen Jahren verändert haben. "Die, die jetzt wieder auf der Straße sind, die schreien zwar am lautesten. Aber es gibt mittlerweile eine schweigende Mehrheit im Land, die mit der Verhaftung ganz relaxed umgeht, die fast erleichtert ist."

Kein Wundern, denn für Serbien geht es um viel. Zehn Millionen Euro habe die Suche nach Mladic jedes Jahr gekostet, erklärt Jaksic. Doch damit nicht genug. "Die Probleme, die daraus entstanden sind, dass Mladic frei herumläuft, haben Serbien jedes Jahr eine Milliarde Euro gekostet." Es geht um Handelserleichterungen, bilaterale Abkommen, die Annäherung an die Europäische Union. "All das war für Serbien nicht möglich", sagt Jaksic.

Viele in Serbien wissen jetzt allerdings nicht, was sie von der Verhaftung des Ex-Generals zu diesem Zeitpunkt halten sollen. Es gebe zwei "Denkschulen", so Jaksic: Die einen sagen, dass die Festnahme eine politische Inszenierung war, um die Chancen auf einen baldigen EU-Beitritt Serbiens nicht gänzlich zu zerstören. Denn am 6. Juni wird Serge Brammertz, der Chefankläger bei den Kriegsverbrecherprozessen, den Vereinten Nationen seinen neuen Bericht über die Kooperationswilligkeit Serbiens vorstellen. Der wird wohl extrem negativ ausfallen. "Doch es gibt auch viele, die glauben tatsächlich, dass es den Behörden erst jetzt gelungen ist, Mladic aufzuspüren." Wieder lacht der Journalist - ein ungläubiges Lachen.

"Verrat an Serbien"

Jaksic glaubt allerdings, dass der Grund für die Verhaftung bald keine Rolle mehr in der öffentlichen Diskussion in Serbien spielen wird. Denn auch wenn es viele nicht zugeben würden: "Die meisten wissen rational und spüren es mittlerweile auch: Die Verhaftung ist das Beste für das Land." Nur das auch laut zu sagen, das trauen sich viele noch nicht.

In den Kommentarspalten der Zeitungen sind die Mladic-Unterstützer in der Überzahl. "Mladic hat uns jahrelang verteidigt, hat dem Staat geholfen und den Armen Essen gegeben", steht bei der auflagenstarken Blic. Von "Verrat an Serbien" ist zu lesen und: "Freiheit für die serbischen Heroen". Bei der letzten Umfrage im Jahr 2009 hatten sich noch 51 Prozent der Serben gegen eine Verhaftung Mladics ausgesprochen.

Jetzt allerdings würden viele ihren Blick auf die Zukunft richten. "Ganz ohne ideologische Scheuklappen, ganz pragmatisch", glaubt Bosko Jaksic. "Denn selbst wenn Tadic mit der Verhaftung nur Wahlkampf macht - die nächsten Parlamentswahlen sind im kommenden Frühjahr, seine Partei hat deutlich an Zustimmung verloren - selbst dann hoffen viele, dem EU-Beitritt jetzt deutlich näher gekommen zu sein."

Darin liege allerdings auch eine große Gefahr, glaubt der Journalist: Das Land liegt aktuell wirtschaftlich am Boden, die Arbeitslosigkeit ist hoch. "Bisher konnte sich die Regierung immer hinter dem ungelösten Problem Mladic verstecken", sagt Jaksic. "Es war leicht, die Schuld für die Probleme im Land damit in Verbindung zu bringen. Jetzt werden die Erwartungen der Menschen steigen."

Und noch liegt der EU-Beitritt für Serbien in weiter Ferne. "Neue Arbeitsplätze entstehen natürlich auch nicht automatisch, nur weil ein Kriegsverbrecher gefasst werden konnte," sagt Jaksic. Davon könnten die Nationalisten profitieren. Bisher sind nur wenige Serben ihren Aufrufen zum Protest gefolgt. Doch Jaksic ist sich sicher: "Wenn das Land nach dem Problem Mladic nicht schnell die anderen dringlichen Probleme löst, wird das nicht so bleiben." Dann könnten wieder Steine fliegen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: