Süddeutsche Zeitung

Serbien:Dreimal mehr als offiziell

Zweifel an Serbiens offiziellen Covid-19-Statistiken gab es schon seit Monaten. Nun zeigt sich, dass sie offenbar berechtigt waren - die Zahlen waren viel zu niedrig.

Von Florian Hassel, Belgrad

Die offizielle Empörung war groß, als der angesehene Infodienst BIRN am 22. Juni einen Bericht über die Toten der Coronakrise in Serbien veröffentlichte. BIRN hatte Zugang zum zentralen staatlichen Informationsdienst über Infizierte und Tote erhalten. Und die internen Zahlen unterschieden sich erheblich von den offiziell bekannten. Nach denen waren zwischen Beginn der Pandemie Mitte März und 1. Juni im sieben Millionen Einwohner zählenden Serbien nur 244 Menschen an Covid-19 gestorben. Tatsächlich gab es mindestens 632 Tote, so der Infodienst. Und es sieht so aus, als seien viele offizielle Zahlen in Serbien zu niedrig gewesen.

Im Krankenhaus von Niš im Süden etwa erlagen offiziell 77 Patienten Covid-19 - real starben laut BIRN 243. Präsident Aleksandar Vučić sagte Anfang Juli, die Daten seien "nicht authentisch". Predrag Kon vom Corona-Krisenstab der Regierung, sprach gar von einer "Verschwörungstheorie" und beschuldigte die Journalisten eines Angriffs auf alle Ärzte. Vergangene Woche ruderte Kon zurück. Im Sender NewsMaxAdria TV erklärte der Epidemiologe, seine Untersuchungen zeigten, dass nur in Belgrad drei Mal mehr Menschen an Covid-19 gestorben seien als offiziell. Kons Erklärung schlug wie eine Bombe ein - es folgten weitere. Der Analyst Nikola Zdravković nahm sich die Sterbestatistiken vor - und stellte fest, im Juni seien 456 Serben mehr gestorben als im Schnitt vergangener Jahre. Im Juli gar 1896 mehr als sonst, im August 885. Enthüllung Nr. 3: Sandra Petrušić vom Wochenmagazin NIN erklärte am 4. Oktober, sie habe eine Untersuchung bei Gesundheitsämtern und -instituten gemacht. Danach seien Tausende mehr Serben mit Corona infiziert als offiziell verzeichnet - und 200 000 Einwohner weniger mit PCR-Test untersucht als offiziell. "Jemand spielt mit unseren Leben und unserer Gesundheit", sagte Petrušić.

Gemeint ist die Staatsspitze: Gesundheitsminister, Ministerpräsidentin Ana Brnabić, die den Krisenstab leitet, und Präsident Vučić. Krisenstabsmitglied Kon schob die Schuld für die zu niedrigen Todeszahlen auf das Informationssystem des Belgrader Batut-Institutes, das für alle Covid-Zahlen zuständig ist. Doch BIRN zufolge kannten enge Mitarbeiter der Regierungschefin und des Gesundheitsministers die echten Zahlen.

Zweifel an den Zahlen - offiziell 756 Tote bis 5. Oktober - gibt es seit Monaten. Zwar verhängte der Präsident schon im März Ausnahmezustand und Lockdown. Der aber endete im Mai - Vučić ließ im Juni das Parlament wählen. Zum Fußballspiel Roter Stern - Partisan Belgrad kamen 25 000 Fans, die Zahl Infizierter, und Toter schoss im Sommer offenbar hoch. Am 1. Oktober versprach Vučić eine "komplette Revision jedes Todesfalls" in Verbindung mit Covid-19. Wer prüfen soll und wann, ist bisher nicht bekannt.

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Quelle:
SZ vom 06.10.2020
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