Serbien:Bittere Tage in Belgrad

Nach der Abspaltung des Kosovo erleben Intellektuelle in Serbien bestürzt, wie aufgehetzte Nationalisten das Bild ihres Landes prägen - und dass Gemäßigte als Verräter geschmäht werden.

Enver Robelli

Das andere Serbien befindet sich an der Fürst-Danilo-Straße in Belgrad. Draußen scheint die Sonne, in der Ruhe des Vormittags führen alte Damen ihre Hunde aus, junge Mütter plaudern über Babynahrung. Alltag in einer europäischen Großstadt.

Serbien, afp

Während eine Protestmarsches gegen die Unabhängigkeit des Kosovo halten Demonstranten die serbische Flagge und ein Foto des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Radovan Karadzic hoch.

(Foto: Foto: afp)

Und drinnen, in einer engen Wohnung, wartet Dejan Ilic zwischen Bücherbergen und Zeitschriften. Hier stapeln sich Werke über die Geschichte der Linken Europas, Literaturstudien über das Sonett in der alten kroatischen Literatur, Abhandlungen zur jugoslawischen Katastrophe in den Neunzigern oder über die Anatomie des Krieges in Bosnien. Dies ist eine Oase des Belgrader Bürgertums, die Fabrika knjiga, die Bücherfabrik.

Auf dem Tisch liegt ein Roman eines albanischen Autors, der übersetzt werden soll. Ilics Verlag erinnert an vergangene Zeiten, als osteuropäische Intellektuelle die jugoslawische und serbische Hauptstadt gern mit Paris verglichen, als Belgrad noch Kulturmetropole war.

Für jene Autoren, die jenseits des Eisernen Vorhangs lebten, war eine Reise nach Belgrad ein Ereignis, zu Hause hatte man viel zu erzählen. Dejan Ilic bezeichnet sich noch heute demonstrativ als Jugoslawen. "Mein Staat ist aber zerfallen", sagt der Nostalgiker, als er Kaffee einschenkt.

Vergangene Zuversicht

Serbien, die größte Republik des früheren Jugoslawien, erlebt bittere Tage. Mit der Unabhängigkeiterklärung des Kosovo wurde gerade ein neues Kapitel im blutigen Drama des Balkans geschrieben. Aus Wut sind Tausende Serben auf die Straße gegangen, Randalierer haben die Botschaften jener Länder verwüstet, die den Kosovo anerkannt haben.

Das Bild der angeblich unbelehrbaren Serben geht um die Welt und vermittelt den Eindruck, das gesamte serbische Volk erhebe sich gegen die "Arroganz des Westens", der einen Staat auf dem Territorium Serbiens schafft und dem Land die "Wiege der Nation entreißt". Dagegen, so wird der Bevölkerung von fast allen Politikern eingetrichtert, müsse sich Serbien wehren.

Doch es gibt auch andere Stimmen. Für sie bedeutet der Verlust des Kosovo nicht das Ende der Welt. "Natürlich ist die Unabhängigkeit eine Erniedrigung für uns", sagt Dejan Ilic. Und natürlich hätten die Großmächte vorsichtiger vorgehen und mehr Rücksicht auf die Gefühle nehmen sollen. "Vielleicht auch noch ein paar Jahre abwarten."

Aber Ilic, 43 Jahre alt, Vater von zwei Kindern, ist die Last der jüngsten Geschichte bewusst. Und diese Geschichte habe nicht am vergangenen Sonntag begonnen, als sich der Kosovo für souverän erklärte. "Eigentlich hat Serbien mit seiner Repressionspolitik die Kosovo-Albaner in die Unabhängigkeit getrieben", sagt Ilic.

Serbien dürfe zwar die Loslösung dieser Provinz nicht akzeptieren, müsse aber wenigstens mit der EU kooperieren. Anders als viele Serben, die den Kosovo nur vom Hörensagen kennen, war Ilic früher oft dort. Seine Mutter stammt aus Pec (albanisch Peja), eine Stadt, von der Ilic sagt, sie sei für ihn der schönste Ort überhaupt gewesen.

Hoffen auf die demokratische Wende

Gewesen? Eine Reise dorthin kann er sich vorläufig nicht vorstellen, er fühle sich unsicher. Er beklagt, dass viele albanische Kollegen kein Interesse an Zusammenarbeit hätten. Mit einigen studierte Ilic in Budapest. Für ihn kündete sich das Unheil schon 1991 an, als der Krieg in Kroatien ausbrach.

Damals sprach der Gewaltherrscher Slobodan Milosevic viel über Frieden und meinte Krieg. Eine Großkundgebung der demokratischen Opposition ließ er niederschlagen, und im Kosovo festigte er das Apartheid-Regime.

Während andere junge Serben in den Krieg gehetzt wurden, flüchtete Dejan Ilic nach London, wo er als Kellner ein kümmerliches Dasein fristete - Tausende seiner Landsleute emigrierten. Ilic kehrte bald zurück nach Belgrad, er verlegte Bücher über die Vergangenheitsbewältigung in anderen Krisengebieten - und hoffte auf eine demokratische Wende.

Die kam erst am 5. Oktober 2000: "Milosevic wurde endlich gestürzt, wir blickten zuversichtlich in die Zukunft." Die serbische Demokratie ist nun knapp acht Jahre alt. Und Ilic um eine Illusion ärmer.

Serbien sei desorientiert, die politische Elite tief zerstritten in Befürworter und Gegner der Integration in die EU. Die tonangebende Fraktion um Regierungschef Vojislav Kostunica liegt Russlands Präsident Putin zu Füßen, Dutzende serbische Städte verliehen ihm die Ehrenbürgerschaft - als Dank für die Unterstützung im Streit um den Kosovo.

"Die Kugel verdient"

"Und wie behandeln uns die Russen? Kaum hatten wir ihnen die Ölindustrie für einen Spottpreis verschenkt, gewährte Moskau der Witwe und dem Sohn von Milosevic Asyl."

Am vergangenen Donnerstag, als in Belgrad die US-Botschaft brannte, wartete das russische Staatsfernsehen mit einer weiteren Provokation auf, die das liberale Belgrad empört: Zoran Djinjic, der am 12. März 2003 ermordete prowestliche Regierungschef, habe die "Kugel verdient", brüllte ein Moderator.

Gehört Serbien zu Europa oder zu Russland? Für ihn sei die Frage längst beantwortet, sagt Verleger Ilic. Die EU sei zwar kein perfektes Gebilde, aber allemal stabiler als Russland.

Bittere Tage in Belgrad

Das andere Serbien existiert, wird aber zur Zeit kaum wahrgenommen. Das große Bild prägt eine Minderheit von Hooligans und nationalistischen Hetzern. Für das andere Serbien spricht auch der Schriftsteller Vladimir Arsenijevic. Er sitzt in einem gestylten Café an der Fürst-Milos-Straße, wo viele Botschaften ihren Sitz haben.

Am Nebentisch wird über den Iran-kritischen Comic-Bestseller "Persepolis" von Marjane Satrapi diskutiert und ein wenig später über die wahren Vorteile des iPhone. Arsenijevic ist kein Berufsprovokateur, wenn es um den Kosovo geht.

In letzter Zeit schreibt er Kolumnen für die Zeitung Politika, die sowohl national gesinnte als auch liberale Serben lesen. Es gehe ihm darum, die Gegner einer Versöhnung mit den Kosovo-Albanern zu erreichen, sagt er. Arsenijevic schaffte den Brückenschlag über die Literatur.

"Dieses Schicksal nicht verdient"

Das war im Mai 1999. Auf Serbien fielen Nato-Bomben, die Männer durften das Land nicht verlassen. Arsenijevic hatte eine Einladung des Internationalen Schriftstellerparlaments und konnte zunächst nach Bosnien flüchten.

Das Endziel hieß für ihn Mexico City. Hier sollte er in Ruhe arbeiten. Doch mit der Ruhe war es plötzlich vorbei, als an seiner Tür jemand klingelte und auf Serbisch sagte: "Arsenijevic, dieses Schicksal haben wir nicht verdient. Weder du noch ich."

Der Mann hieß Xhevdet Bajraj, ein Dichter aus der multi-ethnischen Stadt Orahovac (Rahovec) im Kosovo. Arsenijevic erinnert sich. "Xhevdet kam mit seiner Frau und zwei Kindern, es war ihm nach Wochen der Ungewissheit und Angst um sein Leben gelungen, den Kosovo zu verlassen."

Was der Autor von dort retten konnte, waren zwei Tüten mit Kinderkleidern. Aus der Zeit in Mexiko entstanden zwei Bücher, ein Gedichtband Bajrajs über die "Freiheit des Grauens" und Arsenijevics Dokumentarprosa "Mexiko. Ein Kriegstagebuch". Die Werke liegen in Serbisch und in Albanisch vor.

Fast ein Jahrzehnt ist vergangen. Arsenijevic lebt nun in Belgrad und regt sich auf über den "Sieg der Provinz", die nach der Großkundgebung am Donnerstag für einen Moment das Sagen hatte in Belgrads Straßen. Sie kamen aus Städten wie Pirot und Prokuplje, Kraljevo und Kragujevac, Leskovac und Lapovo. Die Anreise mit Zug und öffentlichen Bussen war gratis.

Serbien ohne Kosovo

"Einige waren vermutlich zum ersten Mal in die Hauptstadt gereist und wollten Geschichte schreiben. Der Versuch ist gescheitert", sagt Arsenijevic. Natürlich wird er für seine Stellungnahmen angefeindet, oft verunglimpfen sie ihn als Jugo-Nostalgiker, als "Serbenhasser". Doch Arsenijevic lässt sich nicht einschüchtern.

Das Leben, sagt er, müsse weitergehen. Es gebe ein Serbien auch ohne den Kosovo. Natürlich ist seine Meinung nicht populär, aber er wird nicht mundtot gemacht. Und sie zeigt, dass eine große Minderheit der Serben den nationalen Schulterschluss für die Verteidigung des Kosovo ablehnt.

Für Leute wie Vladimir Arsenijevic und Dejan Ilic stehen die Menschen im Vordergrund, nicht das Territorium. Auf dem Weg ins Zentrum erzählt Arsenijevic von seinen zwei Kindern, die in einem isolierten Land aufwachsen. Und von seinen Landsleuten, die vor den westlichen Botschaften für ein Visum anstehen müssen.

Einige Botschaften in Belgrad stellen keine Einreiseerlaubnisse mehr aus. Es ist die erste Strafmaßnahme nach den Ausschreitungen. Für zwei Drittel der serbischen Jugendlichen hört die Außenwelt kurz vor der ungarischen Grenze auf. Dort beginnt bereits die EU. Die Hochburg des Wohlstands ist nun aber in weite Ferne gerückt.

So beginnt das Wochenende für viele Belgrader in rauchgeschwängerten Restaurants oder am Tasmajdan- Park. In der Gaststätte "Chance", blättern junge Väter die Zeitungen durch, während ihre Kinder im Grünen spielen.

"Sprache bricht Knochen"

Die Idylle wird von den Schlagzeilen getrübt. In Boulevardblättern ist die Rede von einer Weltverschwörung gegen Serbien oder über den bevorstehenden dritten Weltkrieg. Die Verwüstungen seien von der CIA inszeniert, um die Serben als "wildes Volk" darzustellen, heißt es. Andere Blätter rufen die Politiker zum Einmarsch in den Kosovo auf.

"Die Sprache", sagt Vladimir Arsenijevic, "hat keine Knochen, sie kann aber Knochen brechen." Natürlich sei es den meisten Politikern klar, dass Serbien zu schwach sei für neue Kriegsabenteuer. Die Hexenjagd richtet sich nun gegen Andersdenkende im Land.

Wer von der Linie abweicht, gilt als Verräter. Und wenn sogar der Ministerpräsident meint, die Randalierer hätten nur das Völkerrecht verteidigt, ist die Eskalation der Lage kein Wunder.

In Belgrads liberalen Kreisen wird vor allem ein Intellektueller zitiert. Vor fast 40 Jahren verglich der Philosoph Radomir Konstantinovic seine Heimat mit einer geschlossenen Siedlung, die durch eine Mauer oder einen Palisadenzaun von der Außenwelt abgeschirmt ist. Jenseits lauert das "Chaos" einer "absolut offenen Welt", heißt es bei Konstantinovic.

Diese westliche Welt hat sich für viele Serben nicht verändert, sie wird als ungerecht empfunden, weil sie das Land 1999 bombardierte. Die Ruinen des Generalstabsgebäudes stehen als Mahnmal. Solche Bilder verstärken die Angst vor fremden Einflüssen und Reformen.

Im unerbittlichen Kampf um Posten und Pfründe hätten die demokratischen Machthaber vor allem die serbischen Provinzstädte vernachlässigt, der Verlust des Kosovo diene nur als Ventil für die aufgestaute Wut, erklärt Arsenijevic.

Allein könne Serbien den Weg in eine bessere Zukunft nicht finden, es fehle die Kraft, um den Palisadenzaun niederzureißen. Seine Worte gehen im Lärm des Stadtverkehrs unter. Das andere Serbien wird in diesen Tagen kaum erhört.

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