Waffengewalt in Serbien:Schule der Gewalt

Waffengewalt in Serbien: Wenige Tage nach der Schießerei an der Belgrader Schule rief der serbische Präsident seine Landsleute dazu auf, illegale Waffen straffrei abzugeben. Die Behörden sprachen danach von etwa 13500 eingesammelten Waffen.

Wenige Tage nach der Schießerei an der Belgrader Schule rief der serbische Präsident seine Landsleute dazu auf, illegale Waffen straffrei abzugeben. Die Behörden sprachen danach von etwa 13500 eingesammelten Waffen.

(Foto: OLIVER BUNIC/AFP)

Seit in Belgrad Anfang Mai ein 13-Jähriger sieben Mitschüler erschoss, ist in Serbien nichts mehr wie zuvor. Zehntausende demonstrieren seit Wochen gegen den Präsidenten und seine Regierung.

Von Florian Hassel, Belgrad

Als Igor Djordjević den Vorsitz im Elternbeirat der Schule Vladislav Ribnikar in Belgrad übernahm, hätte er sich nicht träumen lassen, dass sein Amt ihn zu Beerdigungen und Gesprächen mit leitenden Staatsanwälten und der Regierungschefin zwingen würde. Doch seit der 13 Jahre alte Siebtklässler Kosta K. am 3. Mai in seiner Schule den Schulwächter, seine Geschichtslehrerin und sieben Mitschüler erschoss und sechs weitere verletzte, ist in Serbien nichts mehr wie zuvor. Dass am Wochenende wieder Zehntausende Menschen auf die Straße gingen, um gegen die Regierung des Präsidenten Aleksandar Vučić zu protestieren, ließe sich ohne die Ereignisse von Anfang Mai nicht erklären. Aber der Reihe nach.

Die Ribnikar-Schule ist eine Eliteschule, nur ein paar Hundert Meter entfernt vom Parlament und Präsidentenpalast. "Das Besondere an der Schule ist nicht nur der exzellente Unterricht", erzählt Djordjević. "Die Schule bietet ab der 1. Klasse Französischunterricht und unterrichtet auch Mathematik oder Biologie zur Hälfte auf Französisch."

Vor sieben Jahren entschieden sich Igor Djordjević und seine Frau Snezana, dass Tochter Eva auf die Ribnikar-Schule gehen sollte. Djordjević trat in den Elternbeirat ein, zum Schuljahresbeginn 2022/23 übernahm er dessen Vorsitz. "In allen Jahren gab es keinen einzigen ernsthaften Zwischenfall, dessentwegen etwa die Polizei eingeschaltet werden musste", sagt Djordjević .

Der Mörder gilt als Streber, der in allen Fächern der Beste sein will

Am Morgen des 3. Mai ist Tochter Eva nicht in der Schule, sondern zu Hause. Mit Mitschülern und Lehrern soll sie zum Austausch in die türkische Hauptstadt Ankara fliegen. Djordjević steht in der Tür, als seine Tochter ihn zurückruft - etwas Schreckliches sei passiert. "Am Anfang dachten wir, nicht in, sondern neben der Schule sei geschossen werden, etwa von Kriminellen", sagt Djordjević. "Dann kamen die Nachrichten, dass der Schulwächter erschossen worden sei - und über all die anderen Opfer."

Die 14 Jahre alte Eva kennt Kosta K., sie geht wie er in die 7. Jahrgangsstufe. K. gilt als Streber, will in allen Fächern der Beste sein. Sonst fällt ihr nichts Besonderes an Kosta K. auf. Doch seit dem Massenmord an der Ribnikar-Schule, dem am 4. Mai ein Massenmord in drei Dörfern südlich von Belgrad durch den 21 Jahre alten Uros B. folgte, fragt sich Serbien, wie es zu diesen Taten kommen konnte.

Waffengewalt in Serbien: Die Wut nach der Tat: riesige Proteste in Belgrad am vergangenen Freitag.

Die Wut nach der Tat: riesige Proteste in Belgrad am vergangenen Freitag.

(Foto: ANDREJ ISAKOVIC/AFP)

Vor allem der Mord in der Schule schockt das Land. Zehntausende Serben, viele von ihnen in Opposition zum autokratisch regierenden Präsidenten Aleksandar Vučić, haben in Belgrad und anderen Städten gegen Gewalt - und gegen die Regierung protestiert - zuletzt am Freitag in einer der größten Demonstrationen der letzten Jahrzehnte. Sie fordern den Rücktritt des Innenministers und des Chefs des Sicherheitsdienstes, die Entlassung der Leitung des öffentlichen Fernsehens RTS und ein Verbot zweier Fernsehsender: Pink und Happy TV sind nicht nur Sprachrohr von Präsident Vučić, sondern pflegen auch Reality-Shows, in denen nach Meinung vieler Serben Gewalt verherrlicht wird und Kriminelle bis hin zu verurteilten Mördern als Stars auftreten.

Doch wo liegen die Gründe für die Amokläufe? Serbien hat eine der höchsten Waffenbesitzraten der Welt. 2018 schätzte der Small Arms Survey ihre Zahl unter den 6,7 Millionen Serben auf 2,72 Millionen, ein Spitzenplatz nach den USA, Jemen oder Montenegro. Doch anders als etwa in den USA ist die Zahl der Gewaltverbrechen mit Waffen vergleichsweise gering. 2022 etwa starben 30 Serben durch Schusswaffen, so die Datenbank SEESAC.

Gewalt gab es an den Schulen auch früher schon, aber keine Morde

Sicher geht es auch an vielen serbischen Schulen rau zu. Jasna Janković leitet seit acht Jahren den serbischen Lehrerverband, mit gut 27 000 Lehrern an der Hälfte aller Schulen vertreten. "Gewalt war schon früher präsent", sagt sie. "Im November 2019 etwa haben wir gegen Gewalt in den Schulen protestiert, nachdem in der Kleinstadt Sremska Mitrovica ein gewalttätiger Siebtklässler selbst den Schuldirektor angriff und ihm schwere Kopfverletzungen beifügte. Er schlug auch seine Mitschüler - und er war nur ein Fall von vielen."

Am 1. Dezember 2022 demonstrierte der Lehrerverband erneut - diesmal gleich in 47 Städten - unter dem Motto "Stopp der Gewalt", nachdem an einer Berufsschule in Trstenik drei Schüler einen Lehrer angriffen: Der erste habe dem Lehrer den Stuhl unter dem Hintern weggezogen, der zweite den Angriff gefilmt, der dritte ihn per Livestream im Internet übertragen. "Alle drei Schüler sind nicht der Schule verwiesen worden", so Janković.

Auch Marina Vidojević hat als Lehrerin an der Belgrader Grund- und Mittelschule Branko Copic Gewalt sowohl unter Schülern wie von Eltern gegenüber Lehrern erlebt. Als sie einem Schüler eine 1 gab, in Serbien die schlechteste Note, habe dessen Vater sie als "Null, Müll" beschimpft und gedroht, sie mit seinem Wagen zu überfahren. Verbandsvorsitzende Janković berichtet über Folgen der Corona-Krise: "Viele Kinder, die im Lockdown und nur im Internet unterwegs waren, können sich schwer einordnen. In vielen Klassen ist das Interesse geringer geworden, haben asoziales Verhalten und Aggression zugenommen, wie mir alle Kollegen aus den Schulen berichten."

Allerdings, da sind sich die Lehrerinnen mit Elternvertreter Djordjević einig: Waffen, geschweige denn Schusswaffen, spielten an Serbiens Schulen bisher keine Rolle. Und Serbien erlebte zuvor keine Amokläufe wie an US-Schulen, wie 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium oder 2009 an der Albertville-Realschule in Winnenden.

In Serbien gibt es Hunderttausende illegaler Waffen - trotz strenger Gesetze

Serbien hat bereits heute strenge Waffengesetze, gleichwohl geht die Zahl illegaler Waffen in die Hunderttausende. Doch die Massenmorde vom 3. und 4. Mai wurden mit legal registrierten Waffen verübt. Vladimir K., Vater von Kosta K., ein bekannter Belgrader Radiologe und Sportschütze, hatte seinen Sohn offenbar zum Training mit auf Schießstände genommen und seine Pistolen wie vorgeschrieben in einem verschlossenen Waffenschrank aufbewahrt. Doch sein Sohn kannte die Kombination des väterlichen Safes, nahm am 3. Mai zwei Pistolen aus dem heraus und machte sich auf zum Massenmord, so Serbiens Innenminister.

K. erschoss erst den Schulwächter am Haupteingang und zwei Mitschülerinnen, dann machte er sich auf den Weg zum Zimmer seiner Klasse 7/2, wo Geschichtslehrerin Tetjana Stevanović unterrichtete - die hatte ihm offenbar eine schlechte Note gegeben. K. erschoss die Lehrerin, dann weitere fünf Mitschüler, vor allem Mädchen.

Nach seiner Festnahme kommen Gerüchte auf, er sei durch Mitschüler gemobbt worden. Eva Djordjević sagt ihrem Vater Igor, dies sei erfunden. Kosta K. sei nicht besonders populär gewesen, doch durchaus zu Geburtstagen eingeladen worden. Igor Djordjević gehört an der Schule auch einer Arbeitsgruppe zur Verhinderung von Gewalt an. "Es gab weder eine Meldung wegen Mobbing noch irgendeinen Zwischenfall, an dem Kosta K. beteiligt war." Dordjevic vermutet, dass K. unter starkem Druck seiner Eltern gestanden habe, der Beste zu sein. "Er hat etliche Mitschüler erschossen, die genauso gut oder besser waren als er."

Djordjević hält täglichen Kontakt zu Fachleuten von Ministerien und Schulamt. Als er die Süddeutsche Zeitung in einem Belgrader Restaurant trifft, hat er Stunden bei der Oberstaatsanwaltschaft verbracht. "Für uns und unsere Kinder ist es wichtig, dass der Mörder nicht wieder freikommt und die Sicherheit bedroht." Mit 13 Jahren ist Kosta K. nicht strafmündig und befindet sich Präsident Vučić zufolge in einer psychiatrischen Anstalt. "Wir verlangen, dass wir offiziell erfahren, was mit dem Mörder geschehen wird. Und wir sorgen uns, dass, wenn er nicht zur Verantwortung gezogen wird, sich ein anderer den Mörder zum Vorbild nimmt."

"Polizisten mit Waffen in Schulen lösen nicht das Problem der Gewalt in der Gesellschaft."

Die Eltern der Ribnikar-Schule "wollen unpolitisch sein und suchen weder die Unterstützung der Regierung noch der Opposition", sagt Djordjević. Neben einer Komplettrenovierung der Schule während der Sommerpause fordern die Eltern auch vollständige öffentliche Aufklärung über Vorgeschichte und Ablauf des Massakers. Außerdem verlangen sie, dass Staatsdiener zur Verantwortung gezogen werden, die nach dem Massenmord Namen der von Kosta K. notierten potentiellen Opfer ebenso bekanntmachten wie Namen der Toten. Diese Forderungen sind hochpolitisch: Diejenigen, die am 3. Mai Namen bekanntgaben und Gesetze etwa zum Datenschutz verletzten, sind vor allem Belgrads Polizeichef und Präsident Vučić. Dessen Regierungschefin Ana Brnabić hat sich mit Djordjević getroffen und ihm zufolge zugesagt, alle Forderungen zu erfüllen.

Die Regierungschefin hat eine Arbeitsgruppe gegen Gewalt an den Schulen eingesetzt. Lehrerverbandspräsidentin Janković erwartet sich davon wenig. "So eine Arbeitsgruppe wurde auch schon 2019 eingesetzt. Sie hat sich einmal getroffen - vielleicht trifft die neue sich zweimal." Im Rahmen einer Waffenamnestie wurden in Serbien seit den Massakern offiziell 30 000 Waffen abgegeben, Präsident Vučić befahl 1200 Polizisten in Serbiens Schulen. "Doch Polizisten mit Waffen in Schulen lösen nicht das Problem der Gewalt in der Gesellschaft", sagt Janković. "Ich hätte nie gedacht, dass wir an unseren Schulen Amokläufe wie in den USA haben würden. Aber jetzt ist es geschehen. Wir haben eine Grenze überschritten - und können nur beten, dass sich eine solche Tragödie nicht bei uns wiederholt."

Vor der Ribnikar-Schule ist der Asphalt mit Tausenden verwelkter Blumen, dem Wachs abgebrannter Kerzen und Gedichten zum Gedenken an die ermordeten Schüler bedeckt. Drei Tage nach dem Massaker wurden sie beerdigt. Am 15. Mai starb ein weiteres von K. angeschossenes Mädchen im Krankenhaus. Die Schule ist seit dem 10. Mai wieder geöffnet. "Die Schulleitung und wir Eltern haben dabei vor allem auf den Rat von Schulpsychologen und anderen Fachleuten gehört, die dazu rieten, die Kinder möglichst schnell zurück in die Schule zu bringen", sagt Igor Djordjević.

Statt Unterricht stünden Gespräche mit Psychologen und Lehrern im Vordergrund, wer zu starke Angst habe, könne zu Hause bleiben. "Doch ein paar Tage nach Wiedereröffnung kamen mehr als 90 Prozent der Kinder wieder in die Schule. Auch meine Tochter geht wieder zum Unterricht. Wir reden viel mit ihr und unternehmen gemeinsam etwas. Aber Kinder wollen die Gesellschaft anderer Kinder. Und die Ribnikar-Schule ist ihr zweites Zuhause."

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