SPD in Bremen:Abschied vom Kerngeschäft

Überraschender Verzicht: Obwohl die SPD in der Bremer Bürgerschaft die stärkste Kraft ist, überlässt sie erstmals in der Geschichte einem kleinen Koalitionspartner das Sozialressort - eine ur-sozialdemokratische Kompetenz. Die Basis ist erregt.

Ralf Wiegand

Die Stimmung bei den Bremer Sozialdemokraten nach der Bürgerschaftswahl vor vier Wochen hätte nicht besser sein können. Trotz der deutlichen Gewinne der Grünen im kleinsten Bundesland hatte auch die SPD noch knapp zwei Prozent zulegen können, die CDU war abgehängt auf Platz drei in der Bremer Parteienhierarchie, die Mehrheit von Rot-Grün im Parlament, der Bürgerschaft, damit gewaltig: Die Koalitionsverhandlungen sollten da ein Selbstläufer werden. Doch der Zauber der Wahlnacht ist längst verflogen, beim SPD-Parteitag an diesem Samstag dürfte es hitzige Debatten geben. Denn im künftigen Senat wird hinter dem Ressort "Soziales" zum ersten Mal in der Geschichte Bremens kein Sozialdemokrat mehr stehen, die Behörde fällt an die Grünen. "Ein historischer Bruch", findet Rolf Prigge, Mitglied des Landesvorstands, "das gab es noch nie."

Bürgerschaftswahlen Bremen

Gute Laune: Sowohl Grünen-Spitzenkandidatin Karoline Linnert als auch Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen konnten bei der Bürgerschaftswahl in Bremen Gewinne einfahren.

(Foto: dpa)

Prigge stimmte dennoch als einziger aus der Bremer Parteiführung gegen die Abmachung der Verhandlungsführer, den Grünen das Soziale zu überlassen - die anderen Vorständler folgten offenbar der Macht des Faktischen. Zeitdruck und Geldnot, so ließ sich aus den Erklärungen von Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) herauslesen, hätten zu der an der Basis umstrittenen Entscheidung geführt. Der neue Senat sollte noch vor den großen Ferien, die in Bremen schon am 7.Juli beginnen, ins Amt gebracht werden, wobei die Zahl der Köpfe nicht erhöht werden durfte. Bremen leistet sich mit sieben Ressorts zwar nur eine Mini-Regierung, angesichts der Haushaltsnotlage des hoch verschuldeten Landes aber "stand für mich von Anfang an fest, dass der Senat nicht vergrößert werden darf", sagte Böhrnsen dem örtlichen Weser-Kurier. Blieb nur eine Umverteilung der Posten zugunsten der Grünen, die bisher zwei Behörden leiten durften, und künftig drei: Wie bisher Finanzen und Umwelt, dazu eben das Soziale.

Für Rolf Prigge, selbst Sozialpolitiker seit Jahrzehnten, ist die Entscheidung, das Kerngeschäft der Partei aufzugeben, nur schwer nachzuvollziehen. "Soziales und Bildung waren in allen Regierungen immer von der SPD geführt", sagt er und fürchtet Folgen für die Zukunft. Die Grünen könnten nun vier Jahre lang Sozialpolitik nah am Bürger machen - und den seit Gründung des Bundeslandes Bremen ohne Unterlass regierenden Sozis das Wasser abgraben. Prigges Ortsverein wird auf dem Landesparteitag Forderungen stellen, wie die SPD das Leck schließen soll: Sie müsse "eine sozialpolitische Offensive" starten. Der Bevölkerung müsse "glaubhaft deutlich" gemacht werden, dass Sozialpolitik "zum Wesenskern der Sozialdemokratie" gehöre.

Das ähnelt den Appellen in der CDU, die ihren Mitgliedern plötzlich erklären muss, warum sie jetzt zwar gegen Atomstrom, aber noch immer für einen starken Wirtschaftsstandort Deutschland ist. Das Trauma der Union ist der Verlust der Macht in Baden-Württemberg - doch auch der Preis, den die SPD bezahlt, um neben den Grünen regieren zu dürfen wird immer höher. In Stuttgart sind sie nur noch Juniorpartner, in Rheinland-Pfalz durften sie zwar das Sozialressort behalten, aber mit deutlich beschnittenen Kompetenzen - und in Bremen nun mussten sie sich entscheiden, ob sie die Bildungs- oder die Sozialbehörde an den Koalitionspartner abtreten. Die Grünen versichern, selbst überrascht von der SPD-Entscheidung gewesen zu sein. Ihre Senatorin in spe, Anja Stahmann, 43, ist Bildungsexpertin der Partei, hatte sich wohl auf ihr Fachressort eingestellt - und nun wird sie erste grüne Sozialsenatorin der Hansestadt. Ein Vorbild hat sie in den eigenen Reihen: Karoline Linnert wurde vor vier Jahren erste grüne Finanzministerin Deutschlands und machte den Job so gut, dass über ihren Verbleib im Bremer Kassenhäuschen diesmal keine Sekunde diskutiert wurde.

In Bremen hat der Posten an der Spitze der Sozialbehörde eine besondere Bedeutung, nachdem die Bremer Ämter durch den Fall Kevin bundesweit ins Blickfeld geraten waren. Der Zweijährige starb 2006 durch die Hand seines Ziehvaters, obwohl der Junge als Mündel des Jugendamts unter besonderem Schutz des Staates stand. Das Behördenversagen führte zum Rücktritt der damaligen SPD-Senatorin Karin Röpke, ihr folgte Ingelore Rosenkötter (SPD). Trotz leerer Kassen hat sich Bremen einen teuren Umbau des Kinder- und Jugendschutzes geleistet.

Umso umstrittener ist in der Partei, dass gerade in einer Stadt, die bei Kinderarmut und Empfängern von sogenannten Transferleistungen trauriger Spitzenreiter ist, nun nicht mehr die Kleine-Leute-Partei SPD das Sagen über die Verteilung der Mittel haben soll. "Völlig übereilt" sei das Ressort aufgegeben worden, kritisiert etwa der ehemalige Staatsrat Gerd Markus. Hans-Christoph Hoppensack, ebenfalls als Staatsrat einst selbst Regierungsmitglied, sieht gar "den Markenkern" der Partei zerstört. Und der frühere Landesvorsitzende Horst Isola regt an, über einen Arbeitskreis "Sozialdemokraten in der SPD" nachzudenken: Die Leute wüssten nicht mehr, wofür die Partei stehe, sie werde immer beliebiger.

Vorstandsmitglied Rolf Prigge erwartet zwar einen munteren Parteitag, glaubt aber nicht, dass die Mitglieder gleich den kompletten Koalitionsvertrag ablehnen. Das müssten sie nämlich tun, um die Ressortverteilung zu kippen und die Verhandlungsführer zum Nachsitzen mit den Grünen zu zwingen. Prigge verlangt aber: "Das darf uns nicht noch einmal passieren. In Zukunft müssen solche Dinge vor den Koalitionsverhandlungen besprochen werden."

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