In der internationalen Politik fallen Theorie und Praxis häufig unschön auseinander. In der Theorie mag das Timing sinnvoll erschienen sein, als Olaf Scholz am Freitag zum Telefonhörer griff. Nach fast zwei Jahren Pause rief er bei Wladimir Putin an, um über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu sprechen. Am kommenden Dienstag werden 1000 Tage seit dem russischen Überfall auf das Nachbarland vergangen sein. Scholz wird diesen Tag im Kreis der Mächtigen in Rio de Janeiro beim G-20-Gipfel verbringen. Theoretisch also scheint es Sinn zu ergeben, dort von frischen Eindrücken aus dem Telefonat mit Putin berichten zu können. In der Praxis aber wird Scholz wenig Neues erzählen können.
Nach allem, was aus dem einstündigen Telefonat bekannt geworden ist, hat der Kanzler nichts erfahren, was er nicht schon gewusst hätte. Putin beharrt auf seinen Kriegszielen. Vor allem denkt er gar nicht daran, geraubtes Land aufzugeben. „Das Gespräch war sehr ausführlich, hat aber auch zur Erkenntnis beigetragen, dass sich an den Ansichten des russischen Präsidenten nicht viel geändert hat“, bekannte Scholz vor dem Abflug nach Rio. Der Bundeskanzler verteidigte das Gespräch: „Das war wichtig, um auch zu sagen, dass er nicht darauf rechnen darf, dass die Unterstützung Deutschlands, Europas und vieler anderer in der Welt für die Ukraine nachlassen wird.“ Er habe dem russischen Präsidenten gesagt, „dass es jetzt auch an ihm ist, dafür Sorge zu tragen, dass der Krieg ein Ende findet“.
Die Ukraine richtet sich womöglich schon auf eine Zeit nach Scholz ein
Besonders misslich für Scholz ist die Reaktion des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij auf das Telefonat. Selenskij bestätigte, dass Scholz ihn vorab informiert hatte, kritisierte das Telefonat aber dennoch hart. So etwas öffne nur die „Büchse der Pandora“ und durchbreche wie von Putin gewünscht die internationale Isolation Russlands, kritisierte er. Solch offene Kritik an Scholz hatte Selenskij lange und auch dann vermieden, wenn er frustriert war etwa über die Weigerung des Kanzlers, der Ukraine Marschflugkörper vom Typ Taurus zu liefern.
Deutschland ist zweitwichtigster Waffenlieferant, der Kanzler sollte nicht verärgert werden. Dass Selenskij nun wieder – wie zu Beginn des Krieges – einen kritischen Ton anschlägt, könnte als Zeichen schwindender Autorität des Kanzlers gewertet werden. Selenskij richtet sich nach dem Bruch der Ampelkoalition womöglich schon auf eine Zeit nach Scholz ein. Auch der polnische Premierminister Donald Tusk und die finnische Außenministerin Elina Valtonen äußerten Kritik an dem Telefonat.
Die Realität in der Ukraine ist derweil trist, wie das Wochenende erneut verdeutlicht hat: Russland griff die Ukraine mit etwa 120 Raketen und 90 Drohnen an. „Unsere Flugabwehr hat über 140 Luftziele zerstört“, schrieb Präsident Selenskij beim Messenger Telegram. Ziel sei vor allem die Energieinfrastruktur im gesamten Land gewesen. „Leider gibt es beschädigte Objekte durch Einschläge und herabfallende Trümmer“, teilte der Staatschef mit. In einigen Gebiete gebe es Stromausfälle.
Auch wenn er den Kanzler zuvor für sein Gespräch mit dem russischen Präsidenten kritisiert hatte, Selenskij machte deutlich: Sein Land müsse alles in seiner Macht Stehende tun, damit der von Russland begonnene Krieg im kommenden Jahr auf diplomatischem Wege beendet werden kann. Putin sei jedoch nicht an einer Zustimmung zu einem Friedensabkommen interessiert, sagte der ukrainische Präsident am Samstag im ukrainischen Hörfunk.
Etliche Regierungen aus dem globalen Süden sympathisieren mit Russland
Die Frage, wie viel politisches Gewicht Scholz bei der Suche nach einem Frieden in der Ukraine noch in die Waagschale legen kann, dürfte ihn bis Rio verfolgen. Zumal er es zusammen mit den anderen westlichen Staats- und Regierungschefs ohnehin schwer haben dürfte, beim Thema Ukraine etwas zu erreichen. Die USA werden noch von Joe Biden vertreten, während die Welt längst wissen will, was sein Nachfolger Donald Trump im Schilde führt. Auch Selenskij versucht, sich auf ihn einzustellen. Der Krieg werde unter einem US-Präsidenten Trump wahrscheinlich schneller enden, sagte er in einem Radiointerview.
Den Ukrainer hat der brasilianische Präsident Lula da Silva erst gar nicht eingeladen. Das bedaure er sehr, sagte Scholz vor seinem Abflug. Etliche der in Rio Versammelten aus dem globalen Süden waren indes bei Putins Brics-Gipfel in Kasan zu Gast, sympathisieren mit Russland oder sind unverhohlen Unterstützer des Krieges wie China. Vor zwei Jahren war es beim G-20-Gipfel auf Bali noch gelungen, eine breite Front gegen den Aggressor Russland zu bilden und auch klare Worte in der Abschlusserklärung zu finden. In Indien im vergangenen Jahr erwies sich das schon schwieriger. Diese Tendenz werde sich in Rio fortsetzen, räumen Scholz’ Leute ein. Man solle aber den Erfolg des Gipfels nicht nur an „diesem oder jenem Adjektiv“ messen.
Wünschenswert wäre für Scholz, dass es in Rio Ergebnisse gibt, die er auch als sein Verdienst reklamieren kann. In den wenigen Monaten bis zur Bundestagswahl bietet dem Kanzler die internationale Bühne jedenfalls die Gelegenheit, sich als erfahrener Politiker von seinem Hauptkonkurrenten Friedrich Merz abzusetzen.