Selbstmord im Dritten Reich:Die Selbstzerstörung des Nationalsozialismus

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Der Zusammenbruch des "Dritten Reichs" löste eine beispiellose Welle von Selbstmorden aus. Autor Christian Goeschel untersucht in seinem Buch "Selbstmord im Dritten Reich", warum so viele ganz normale Deutsche sich im Frühjahr 1945 umbrachten.

Benjamin Ziemann

Als das "Dritte Reich" im Frühjahr 1945 zusammenbrach, sahen viele führende Nationalsozialisten keine Zukunft mehr für sich selbst. Nicht nur Hitler, Goebbels und wenig später Himmler brachten sich um. Andere Mitglieder der NS-Elite begingen ebenfalls Selbstmord, darunter nicht weniger als acht der 41 Gauleiter.

Nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reichs" nahmen sich viele NS-Mitglieder das Leben: Auch Joseph Goebbels. (Foto: Deutsches Bundesarchiv)

Auch in der tief in die Kriegsverbrechen des NS-Regimes verstrickten Wehrmacht waren die Zahlen dramatisch. Von 554 Heeresgenerälen töteten sich 53. Welche Ursachen hatte diese beispiellose Welle von Selbstmorden? Was verrät sie darüber, wie das NS-Herrschaftssystem funktionierte? Diesen Fragen geht Christian Goeschel in seiner Studie nach. Dazu verknüpft er die Analyse von Einzelfällen mit dem Blick auf die sozialen Rahmenbedingungen des Suizids.

Katastrophischer Nationalismus ist eine mögliche Erklärung für die Selbstmordwelle jener Tage. Dieser Lesart zufolge war der Nationalsozialismus von Beginn an auf Selbstzerstörung angelegt, auf eine Verklärung des destruktiven Endes der Nation, die der Eroberung durch den Gegner auf jeden Fall vorzuziehen war. Goeschel gibt nicht viel auf dieses Motiv: Allenfalls für die Spitzen der Partei möge es gegolten haben. Im Frühjahr 1945 war Selbstmord aber ein relatives Massenphänomen. Allein im April brachten sich in Berlin 3881 Menschen um, fünfmal mehr als in den Jahren zuvor. Doch in den Gebieten westlich der Elbe blieben solche Panikreaktionen selten.

Vieles spricht demnach dafür, in der Selbstmordwelle eine indirekte Reaktion auf die NS-Propaganda zu sehen, die den Topos der "grausamen Russen" eingeprägt hatte. Seit Januar 1945, als die Rote Armee im Osten Deutschlands vorrückte, hatte die Angst vor Vergeltung und Vergewaltigung viele Menschen erfasst. Normalerweise bringen sich mehr Männer als Frauen um. In diesen Monaten kehrte sich das Verhältnis um.

Die ganze Widersprüchlichkeit des massenhaften Suizids im Frühjahr 1945 erschließt sich nur, wenn man die Vorgeschichte einbezieht. Goeschel geht dafür in die Weimarer Republik zurück, deren Feinde von links und rechts das Ansteigen der Selbstmordrate im Vergleich zur Vorkriegszeit als ein Versagen des demokratischen Systems brandmarkten.

Das letzte Refugium von Indivualität

In Anlehnung an eine Theorie des Soziologen Émile Durkheim bevorzugt Goeschel den Begriff der Anomie. Damit lässt sich verstehen, wie eine gesellschaftliche Krise die Neigung zum Selbstmord verstärkt. Anomisch ist eine Situation, in der sich legitime Ziele nicht mehr mit legalen Mitteln verfolgen lassen. Das galt etwa für jene Männer, die ihren Freitod in den frühen dreißiger Jahren mit langer Arbeitslosigkeit rechtfertigten, die ihnen jede Zukunftsperspektive verbaute.

Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten trat die christlich-theologische Verurteilung des Selbstmordes in den Hintergrund. In der sozialdarwinistischen Weltsicht des Regimes galt ein doppelter Maßstab. Bei jenen "gefährdeten und labilen Typen, deren Fortpflanzung nicht unbedingt wünschenswert sei", ließ sich Suizid positiv als ein "rassischer Eliminationsprozess" verstehen. So formulierte es der Dichter und Arzt Gottfried Benn, der 1940 im Oberkommando der Wehrmacht für Selbstmorde von Soldaten zuständig war.

Bei "rassisch wertvollen" Deutschen war Selbstmord jedoch zu verhindern. Zur zynischen Begrifflichkeit trat eine zynische Praxis. Als 1933/34 eine Welle des Terrors über die Feinde des Regimes rollte, wurden viele Sozialisten "geselbstmordet": Wenn sie nach Drohungen nicht selbst Hand an sich legten, halfen die Schergen des Regimes nach und stellten die Tat als Selbstmord hin.

In einer durch Terror geprägten Situation konnte der Selbstmord aber auch das letzte Refugium von Individualität sein. Das zeigen viele Selbstmorde von Juden, denen oft sorgfältige Planung zugrunde lag. Ihre Anzahl stieg dramatisch an, als im Oktober 1941 die Deportation der deutschen Juden in die Vernichtungslager begann. Zyankali in der Tasche war nun ein Mittel der individuellen Selbstbestimmung.

Manche der jüdischen Selbstmörder verbanden ihre Tat mit einem trotzigen Bekenntnis zu ihrem Deutschtum. Ihre Motive unterschieden sich fundamental von jenen der NS-Täter im Frühjahr 1945. Erst in der Zusammenschau dieser Fälle eröffnet die Analyse des Selbstmordes eine neue Perspektive auf das NS-Regime. Statt Ordnung und Stabilität zu sichern, zerstörte es Normen und schuf eine chaotische Situation, in der viele Deutsche sich selbst töteten.

CHRISTIAN GOESCHEL: Selbstmord im Dritten Reich. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 338 Seiten, 21, 90 Euro.

Benjamin Ziemann lehrt Neuere Geschichte an der University of Sheffield.

© SZ vom 26.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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