Süddeutsche Zeitung

Selbstjustiz in den USA:Im Namen des Volkszorns

Die "schlimmste Erscheinungsform des Rassismus in den USA": Der Historiker Manfred Berg analysiert in einer erschütternden Studie die lange tolerierte Lynchjustiz in den Vereinigten Staaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg endete die Praxis - und wurde durch das Regime der Todesstrafe ersetzt.

Von Rudolf Walther

Am 13. Juni 2005 verabschiedete der amerikanische Senat eine Resolution, mit der er sich bei den Opfern von Lynchjustiz entschuldigte und diese Praxis als "schlimmste Erscheinungsform des Rassismus in den USA" anprangerte. Der Senat gestand sein Versagen ein, weil er keiner der rund 200 Gesetzesvorlagen für ein Bundesgesetz gegen Rassismus, die seit 1900 eingebracht worden waren, zugestimmt hatte, obwohl "99 Prozent" der Mitwirkenden bei Lynchmorden der Strafverfolgung entgingen. Nie zuvor und nie danach hat ein amerikanisches Parlament eine solche Mitverantwortung an einem Verbrechen eingeräumt.

Als Erster präsentiert Manfred Berg eine umfassende Darstellung und Analyse des politischen Großverbrechens in deutscher Sprache. Im Unterschied zu anderen politisch motivierten Verbrechen wie Vertreibungen, Säuberungen und diskriminierenden Gesetzen gegen Minderheiten ging die Lynchjustiz in den USA aber nicht von staatlichen Institutionen aus. Sie beruhte vielmehr auf mehr oder weniger spontaner Selbstjustiz von gleichzeitig politisch erregten und wirtschaftlich interessierten Bürgern, deren Taten der Staat in stiller Komplizenschaft hinnahm oder einfach duldete oder nur mit lächerlich nachsichtigen Gerichtsurteilen sanktionierte.

Berg definiert den Lynchmord präzis als "extralegale Bestrafung angeblicher Verbrecher durch mehr oder weniger organisierte Gruppen" im Namen der "gemeinschaftlichen Verteidigung von Recht und Ordnung". Er grenzt diese archaische Praxis damit ab von "hate crimes", die ohne Billigung des Publikums stattfanden, und "race riots" sowie anderen pogromartigen Attacken auf Minderheiten.

Das Wort "lynchen" geht auf einen Oberst zurück

Historiker belegen, dass allein zwischen 1882 und 1946 mindestens 4716 Menschen Opfer von so definierten Lynchmorden wurden. Achtzig Prozent der Taten fanden im Süden der USA statt und 3425 Opfer waren Afroamerikaner.

Die Praxis der Selbstjustiz ist jedoch mehr als hundert Jahre älter. Das Wort "lynchen" geht wahrscheinlich auf den Oberst Charles Lynch aus Virginia zurück, der Anhänger der britischen Kolonialmacht mit der Berufung auf "Lynch's Law" verprügeln ließ. Im Kampf um die Eroberung des Westens bildeten sich unter den Pionieren Bürgerkomitees ("vigilance committees"), die sich mangels funktionierender staatlicher Organe mittels Selbstjustiz gegen Räuberbanden, Vieh- und Pferdediebe wehrten.

Im Süden der USA, wo die Sklavenwirtschaft herrschte, war die Praxis der Selbstjustiz ("popular justice") eindeutig rassistisch codiert und diente der Disziplinierung von Sklaven. Formen von "popular justice" gab es in der ganzen Welt zwischen Russland und Lateinamerika, aber nirgends hielt sie sich so hartnäckig lange wie in den USA, wo das staatliche Gewaltmonopols - trotz eines drakonischeren Strafrechts - weniger geachtet wurde als in Europa.

Die Wurzeln der Lynchjustiz in Amerika liegen in der Kolonialzeit. In North Carolina wurden schon vor 1776 - der Gründung der USA - wenigstens 76 Todesurteile verhängt, aber für die Vollstreckung fehlen Belege. Unbekannt waren damals in den amerikanischen Kolonien Folter und grausame Formen der Strafe. Diese rechtliche Schranke galt allerdings nur für Weiße. Sklaven dagegen waren bloß "bewegliches Eigentum" und wurden grausam bestraft: Man räderte sie, man ließ sie verhungern und verbrennen. Die Kolonialmacht tolerierte auch, dass bewaffnete Siedler ("regulators") strafend und mordend gegen Indianer vorgingen.

Spätestens von 1830 an war die Lynchjustiz "Teil der amerikanischen Kultur". 1845 gab Präsident Andrew Jackson - ein skrupelloser Haudegen auf dem Kapitol - die Devise aus, "dass das Gesetz den Willen und das Interesse des Volkes schützen müsse" und dieses Gesetze notfalls missachten dürfe. In der Kultur der Südstaaten, die auf Ehre, Rache, Gewalt und Leidenschaft beruhte, stieß das auf fruchtbaren Boden. Glücksspieler, Gesetzlose, Räuber und andere "Sünder" bekamen nun den "Bürgergeist" und den "Volkszorn" zu spüren und wurden kollektiv gelyncht, wenn Gerichte nicht einschritten.

Die sklavenbesitzende Pflanzeraristokratie des Südens bildete zwar eine Minderheit, aber als kulturell, politisch und wirtschaftlich dominierende Elite gelang es ihr, die armen Weißen im Süden für ihre Interessen einzuspannen im "Rassenkampf" gegen angeblich jederzeit aufstands- und vergewaltigungsbereite Sklaven. Gab es zunächst noch ein "erstaunliches Maß an Fairness" (Berg) in den Verfahren gegen Sklaven, denn ein toter Sklave war ein wirtschaftlicher Verlust für den Besitzer, so änderte sich das nach dem verlorenen Bürgerkrieg (1861 bis 1865) schlagartig.

Vom spontanten Mob zum Ku-Klux-Klan

Der unterlegene Süden wollte die drohende "Negerherrschaft" mit allen Mitteln verhindern. Die Pflanzeraristokratie konnte die Konformität und Loyalität der Sklaven nur mit erhöhter Gewalt und Lynchjustiz sichern. Der rassistisch imprägnierte Paternalismus wurde abgelöst von blankem Rassenhass. Im Wahlprogramm der Demokraten hieß es 1865: "Komme, was wolle, es darf unter gar keinen Umständen jemals eine Gleichheit zwischen Weißen und anderen Rassen geben." Die Gesetze zum Schutz und zur Gleichberechtigung von Schwarzen wurden im Süden noch Jahrzehnte lang missachtet oder unterlaufen.

Zum spontan agierenden Mob gesellte sich das organisierte Verbrechen. Zwischen 1868 und 1871 ermordete der Ku-Klux-Klan rund 20 000 Menschen. "Die Praxis des Lynchens zielte darauf, die Botschaft des Terrors sichtbar zu machen." Der Klan praktizierte nun Schlachtrituale an Schwarzen, die vor der Verbrennung gefoltert und deren Körper danach zerteilt und in Portionen verkauft wurden.

Fotografen machten aus den Morden ein lukratives Geschäft mit Postkarten, das erst in einer Ausstellung im Jahr 2000 dokumentiert wurde (vgl. www.withoutsanctuary.org). Nach dem Zweiten Weltkrieg endete die Lynchjustiz und wurde durch das Regime der Todesstrafe ersetzt: Von 1977 bis 2013 wurden in den USA 1300 Todesurteile vollstreckt, 450 davon an Afroamerikanern. - Manfred Bergs brillante Studie belegt die Geschichte der Lynchjustiz facettenreich mit bestürzenden Details, die den Leser erschaudern lassen.

Manfred Berg: Lynchjustiz in den USA. Hamburger Edition, 2014. 275 Seiten, 32 Euro.

Rudolf Walther ist freier Publizist. Zuletzt erschien von ihm: "Aufgreifen, begreifen, angreifen. Historische und politische Essays", Band 4 (Oktober Verlag, Münster 2014).

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SZ vom 16.09.2014/ebri
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