Selbstbehauptung:Europa muss in den Kampfmodus schalten

Matroschka-Puppen in einem Souvenir-Shop in Moskau

Im Inneren hat die EU viele Bürger verloren. Sie sind Europagegner geworden, um die sich die Nationalisten bemühen.

(Foto: REUTERS)

Trump baut Mauern, Putin will Russland größer machen, Polen igelt sich ein. Europa wird nur überleben, wenn es sich den inneren und äußeren Feinden stellt.

Kommentar von Stefan Ulrich

Das Schöne an der schönen neuen Welt der Nationalisten ist, dass man sie besichtigen kann. In der Toskana, in San Gimignano. Dort ragen 15 Geschlechtertürme in den Himmel, kantig, trutzig, fast ohne Fenster. Einst standen hier sogar 73 Türme. Patrizierfamilien hatten sie im 12. und 13. Jahrhundert im Wettstreit miteinander errichtet, um sich verteidigen zu können und ihre familiäre Größe zu demonstrieren. Dafür nahmen sie ein beengtes, unbequemes Leben in den düsteren Türmen in Kauf.

Größe hat ihren Preis. Wer Mauern baut, um andere auszusperren, sperrt sich selbst ein. Wer totale Sicherheit anstrebt, opfert Freiheit, verzichtet auf Wohlstand. Den Familien von San Gimignano hat es nichts genützt. Von ihren Kämpfen miteinander geschwächt, gerieten sie unter die Fuchtel von Florenz.

Wird es dem liberalen Westen, der heute vor allem noch von Europa vertreten wird, ebenso ergehen? Und wer wird dann die Rolle von Florenz einnehmen?

Diese Fragen zu stellen ist nicht alarmistisch. Denn die Türme werden wieder gebaut. Großbritannien verlässt die EU. Polen und Ungarn igeln sich ein, aus Angst vor Fremden und Sehnsucht nach nationaler Größe. In vielen EU-Ländern rüsten sich Nationalpopulisten für die Wahlen, um ihren Anspruch durchzusetzen, das "wahre Volk" zu führen und alle anderen auszustoßen.

Wladimir Putin assistiert der Selbstzerteilung Europas, denn sie nützt seinem Plan, Russland größer zu machen, um seine Landsleute mit der klingenden, aber wertlosen Münze des Nationalismus abzuspeisen. Derweil verweigert Trump Menschen die Einreise und schleift die weltoffenen Seiten der USA, um sie durch Mauern zu ersetzen, hinter denen er überlegt, Feinde zu foltern. China lauert darauf, Weltmacht zu werden. Und das liberale Europa, das den alten Westen schätzte - besonders im Vergleich zu allen anderen Räumen und Zeiten -, ist plötzlich allein.

Seine Verzagtheit ist überall zu spüren, auch in der Rede, die Joachim Gauck gerade in Paris hielt. Das ist verständlich. Doch das liberale Europa muss jetzt vom Klage- in den Kampfmodus umschalten. Es wird überleben, wenn es sich den inneren und äußeren Feinden stellt.

Die Kritik von EU-Gegnern ist oft berechtigt

Im Inneren hat die EU viele Bürger verloren. Sie sind Europagegner geworden, um die sich die Nationalisten bemühen. Die viel zitierten Eliten in Politik, Kultur und Medien waren davon so überrumpelt, dass sie sich teilweise in Arroganz flüchteten. Wer den Euro infrage stellte, die Globalisierung kritisierte oder sich nach einem überschaubaren Leben unter seinesgleichen sehnte, wurde als Rassist und Reaktionär disqualifiziert. Das trieb diese Menschen den echten Nationalisten zu.

Die Proeuropäer beginnen, daraus zu lernen. Die Kritik von EU-Gegnern ist oft berechtigt. Ja, es wurde versäumt, eine vollwertige Demokratie auf europäischer Ebene zu errichten. Europa wurde von Eliten ohne genügend Bürgerbeteiligung erbaut. Für die Finanzkrise bezahlten meist die Falschen. Die Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa ist unerträglich hoch. Und ja: Globalisierung nützt nicht allen.

Nur: Die Nationalpopulisten geben auf echte Probleme die falschen Antworten. Sie verbreiten Lügen, welche die Krisen verschärfen und jene Menschen noch ärmer machen, die sich ohnehin abgehängt fühlen.

Lüge eins: Europa unterdrückt die Nationalstaaten. Das Gegenteil ist der Fall. Nationale Regierungen verhindern durch egoistisches Auftreten, dass Europa die Flüchtlingskrise, den Umweltschutz oder Steuergerechtigkeit wirksamer angehen kann. Nur durch das Bündeln ihrer Souveränität werden die Nationen überhaupt erst wieder handlungsfähig.

Lüge zwei: Nationalismus schafft Sicherheit. Richtig ist: Weder Terroristen noch Putin lassen sich von Belgien, Italien oder Polen alleine beeindrucken.

Lüge drei: Nationalismus schafft Wohlstand. Jeder Vergleich beider Hälften des 20. Jahrhunderts beweist das Gegenteil.

Im Äußeren werden die Europäer ihre Freiheit behaupten müssen

Es reicht freilich nicht, falsche Rezepte zurückweisen. Die Europäer müssen die EU kurieren, in dem sie sie demokratischer und begreifbarer machen - und einfühlsamer gegenüber griechischen Arbeitslosen, französischen Stahlarbeitern, polnischen Kleinbauern. Europa muss die Empathie zeigen, zu der die Putins und Trumps unfähig sind. Dann wird es nicht mehr nur als Europa der Konzerne wahrgenommen, sondern auch als Europa der Bürger akzeptiert. Trump trompetet: "America first!" Die EU wird ihre Probleme nur lösen, wenn ihre nationalen Politiker öfter nach dem Motto handeln: Europa zuerst.

Im Äußeren werden die Europäer ihre Freiheit behaupten müssen, selbstbestimmt zu leben. Die Zeiten, in denen sich die USA darum kümmerten, sind wohl vorbei. Putin oder Trump werden nur eine EU respektieren, die sich wehren kann. Alleine können das Dänen, Litauer oder Deutsche nicht. Daher sollten möglichst viele EU-Staaten eine gemeinsame Verteidigung aufbauen, die einen Ausfall der Nato ausgleichen könnte.

Viele Europäer sind heute verängstigt. Dabei besteht die EU aus einer halben Milliarde Menschen, die wirtschaftlich eine Weltmacht sind. Wenn sie mehr Selbstbewusstsein als Europäer entwickeln und akzeptieren, dass sie in ihre Verteidigung investieren müssen, wird Europa frei und friedlich weiterleben. Das ist es auch jenen Menschen in China, Arabien oder Afrika schuldig, für die Europa kein Kontinent der Krise, sondern der Hoffnung ist.

Auch die Europäer könnten öfter auf das achten, was gerade gut läuft in Europa. Da gibt es nichts? Da gibt es vieles. Die 27 anderen EU-Staaten reagieren ziemlich cool auf den Brexit. Sie sind sich einig, dass Großbritannien nicht Vorteile einheimsen darf, ohne Lasten mitzutragen. In Österreich wird ein Pro-Europäer als Bundespräsident vereidigt. In Deutschland führt der Herzenseuropäer Martin Schulz die SPD gegen die Kopfeuropäerin Angela Merkel (CDU) in den Wahlkampf. In Frankreich ist der liberale Europafreund Emmanuel Macron der Star der Präsidentschaftskampagne.

Putin, Trump, Brexit, Nationalisten: Viele Europäer schrecken hoch. Das ist gut, denn sie werden kämpfen müssen, damit der Geist Europas weiterwirken kann.

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