Süddeutsche Zeitung

Seenotrettung:"Wir werden behindert"

Tausende Flüchtlinge hat "Sea-Watch" im Mittelmeer schon gerettet. Frank Dörner über den Kampf gegen das Ertrinken und die Politik von EU und Libyen.

Interview von Thomas Hahn

Herr Dörner, unterwandert Sea-Watch die Bemühungen der EU, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten?

Frank Dörner: Wir unterwandern gar nichts. Wir leisten Seenotrettung. Wir fühlen uns verpflichtet, dort einzuspringen, wo die Behörden nichts machen - wahrscheinlich, um Flüchtlinge abzuschrecken.

Sie sind aber auch nicht zimperlich mit Ihren Vorwürfen gegen die EU.

Wir setzen uns mit den politischen Rahmenbedingungen auseinander. Und wir sagen unsere Meinung dazu.

Die Behörden reagieren. Das Klima um Sea-Watch scheint rauer geworden zu sein. Es gab den Vorwurf, Sie würden Einsätze der Küstenwache behindern.

Wir richten uns nach dem internationalen Seerecht, wir behindern niemanden bei Rettungsaktionen. Im Gegenteil: Wir werden behindert. Es stimmt, das Verständnis dafür, dass man Menschen in Seenot rettet, ist weniger geworden.

Sprechen Sie mit den Behörden darüber?

Wir haben Frontex (die Grenzschutzagentur der EU, d. Red.) um Gespräche gebeten. Aber unsere Einladungen sind in der Regel abgelehnt worden. Und die aktuellen Gesprächsforen werden von institutioneller und militärischer Seite dominiert. NGOs (nicht-staatliche Organisationen, d. Red.) stehen da eher am Rand. Auch mit der libyschen Seite wollten wir sprechen - erst recht nach dem Vorfall im November, bei dem Menschen starben.

Was ist da geschehen?

Die Seenotleitzentrale in Rom hatte uns zu einem Boot voller Geflüchteter weit außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer gerufen. Bei diesem Einsatz versuchte dann die libysche Küstenwache mit einem Schnellboot zu verhindern, dass wir die Leute nach Europa bringen. Das Boot fuhr direkt auf die Flüchtlinge zu. Viele fielen oder sprangen ins Wasser, versuchten, auf das Schnellboot zu kommen, auf dem sie dann zum Teil misshandelt wurden. Am Schluss ist es einfach losgefahren, obwohl noch Menschen an der Bordwand hingen. Wir mussten fünf Leichen bergen. 50 Menschen wurden später vermisst.

Klappte das Gespräch mit den Libyern?

Die libysche Küstenwache ist in verschiedene Fraktionen zerfallen. Das macht den Dialog schwierig. Und dann hieß es, vor einem Gespräch müssten wir erst mal unser Fehlverhalten anerkennen. Aber es gibt kein Fehlverhalten von unserer Seite. Die Libyer haben dagegen falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Und nach unserem Ermessen durchaus vorsätzlich.

Sie erheben schon wieder den Vorwurf, dass staatliche Einheiten das Leben von Flüchtlingen riskieren.

Ich würde nie sagen, dass Behörden absichtlich jemanden zu Tode kommen lassen. Aber sie versuchen mit allen Mitteln, Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Alle sprechen vom Rückgang der Flüchtlingszahlen. Es wird unterschlagen, was mit den Leuten passiert, die nicht weiterkommen, die zum Beispiel in die schrecklichen Flüchtlingszentren in Libyen kommen. Keiner redet darüber, dass sie von Milizen abgefangen, gefoltert, vergewaltigt und erpresst werden, damit ihre Familien sie freikaufen.

Aber ärgern sich die Behörden nicht auch manchmal zu Recht über die aktivistischen Handlungen der NGOs?

Aus rein menschlichem Ermessen heraus würde ich sagen: nein. Es ist nicht zu akzeptieren, dass Menschen ertrinken, bloß weil die EU-Staaten keinen vernünftigen Verteilungsschlüssel hinkriegen. Natürlich haben wir auch Fehler gemacht, bei den Abläufen, in der Kommunikation.

Sie haben sich dem Verhaltenskodex der italienischen Regierung widersetzt.

Den Kodex hatte sich die italienische Regierung ausgedacht, um deutlich zu machen, dass sie bei der Seenotrettung das Heft in der Hand hat. Wir fanden ihn erst unnötig. Wir richteten uns ja schon nach allen rechtlichen Normen. Dazu kamen kriminalisierende Anschuldigungen der Behörden gegen die NGO "Jugend Rettet", die wir haltlos fanden. Wir haben lange überlegt. Wir haben einzelne Punkte abgelehnt, zum Beispiel, dass die Polizei ständig zu uns an Bord kommen kann. Wir haben mit Italiens Regierung gesprochen, kamen zum Kompromiss. Und am Ende haben wir den Kodex doch unterschrieben, weil wir eingesehen haben, dass unsere sehr prinzipientreue Haltung im Sinne der Sache vielleicht nicht die praktischste ist.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Frontex jetzt?

Frontex ist die Grenzschutzagentur, und Grenzschutz ist nicht Flüchtlingshilfe. Genauso ist das bei den verschiedenen Nato-Missionen. Selbst wenn die Militärschiffe näher dran sind an einem Flüchtlingsboot, helfen sie nicht.

Das haben Sie schon erlebt?

Mehrfach. Man muss sich vorstellen: Wir hatten lange nur kleine Schiffe, die nicht für die Seenotrettung ausgelegt sind. Bei manchen Einsätzen waren sie hoffnungslos überfüllt - während riesige Militärkonvois an uns vorbeizogen, die alle Möglichkeiten haben, Menschen unterzubringen.

Dabei müssten Frontex und Sea-Watch die gleichen humanitären Ansprüche haben.

Das würde Frontex auch behaupten. Und wenn Frontex-Schiffe retten müssen, retten sie auch. Aber im Grunde geben es Struktur und finanzielle Ausstattung von Frontex nicht her, Seenotrettung zu betreiben. Deshalb fordern wir ja ein ziviles Seenotrettungssystem der EU. Als die Italiener ihr Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum hatten, haben sie mit militärischen Mitteln 130 000 Leute gerettet. Letztlich fehlte das politische Interesse, dieses Programm weiterzuführen. Wir wären immer bereit, mit allen zusammenzuarbeiten. Aber auch daran gibt es kein Interesse.

Seenotrettung

Sea-Watch ist eine Initiative von Freiwilligen, die nicht mehr tatenlos zusehen wollten, wie jedes Jahr Tausende Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer sterben. Das erste Schiff des Seenotrettungs-Vereins - die Sea-Watch I ist ein umgebauter Fischkutter aus den Niederlanden - unternahm 2015 seine ersten Fahrten. Mit wechselnden Crews, bestehend aus Ehrenamtlichen aus ganz Europa, war Sea-Watch seither nach eigenen Angaben an der Rettung von mehr als 35 000 Menschen beteiligt. Mittlerweile ist die Sea-Watch 3 in Betrieb, das bisher größte Schiff der Organisation. Erst in der Silvesternacht brachte es 92 Flüchtlinge aus Libyen in Sicherheit. Sea-Watch finanziert sich über Spenden.

Von Behörden kam der Verdacht, Sea-Watch kooperiere mit Schleppern.

Das ist schlicht eine Lüge.

Das klingt wie der Vorwurf, man wolle Sie absichtlich in Verruf bringen.

Das würde ich auch so sagen. Es gab eine Strategie der Behörden, Flüchtende zu kriminalisieren. Die Helfer wurden instrumentalisiert, indem man sagte, denen gehe es nur ums Image und um Spenden. Niemand ist so weit gegangen zu behaupten, dass NGOs sich über Schlepper finanzieren. Aber der Gedanke lag nahe.

Die Medienarbeit von Sea-Watch ist tatsächlich nicht schlecht.

Es geht darum, politischen Druck aufzubauen. Uns war immer klar, wenn wir nur in Seenot geratene Flüchtlinge retten, kriegt es keiner mit. Wir wollen aufrütteln.

Die Euphorie war groß, als Sea-Watch 2015 startete. Wie ist die Stimmung jetzt?

Bei den Aktivisten, die von Anfang an dabei sind, gibt es zwischenzeitliche Ermüdungserscheinungen. Es ist zermürbend, immer wieder zu sehen, wie wenig Verantwortung die europäische Politik übernimmt für das, was dort in ihrem Namen passiert. Wir haben nach den Einsätzen sehr viele, sehr erschöpfte Leute. Außerdem: Sea-Watch wächst, die Kommunikation, das Umsetzen und Nachhalten von Entscheidungen verändert sich. Da gibt es viele Reibungsverluste. Leute werden frustriert, weil sie sich im neuen Konstrukt nicht mehr wiederfinden. Aber wir haben auch viele neue Bewerbungen. Es kommen weiterhin ganz tolle Leute zusammen, die ihre knappe Freizeit und ihr Geld einsetzen, um dem Rechtsruck in Europa etwas entgegenzusetzen.

Zuletzt haben Sie ein größeres Schiff in Betrieb genommen. Geld haben Sie also.

Der Kauf war nötig, um besser helfen zu können. Und er sollte ein politisches Statement sein. Wir wollten sagen: Wenn ihr versucht, uns klein zu machen, werden wir erst recht groß. Aber finanziell ist es jetzt durchaus eng. Wir hoffen, dass die Hilfe der Spender so bleibt, wie sie war, oder sich sogar steigert, damit wir weitermachen können.

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Quelle:
SZ vom 03.01.2018
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