Süddeutsche Zeitung

Seenotrettung:"Der Anteil derer, die im Mittelmeer ertrinken, steigt"

Die Migrationsforscherin Petra Bendel sieht im Politikwechsel von Innenminister Seehofer eine Chance, die verfahrene Situation in der Migrationspolitik aufzubrechen. Die Türkei nennt sie einen "unberechenbaren Partner" für die EU.

Interview von Lukas Wittland

Für seinen Vorschlag, jeden vierten im Mittelmeer geretteten Flüchtling nach Deutschland zu holen, steht Innenminister Horst Seehofer bei Unionspolitikern in der Kritik. Am Dienstag möchte er bei dem Innenministertreffen der EU weitere Länder gewinnen, sich am Notfallmechanismus zu beteiligen. Mehrere CDU-Politiker sehen in ihm einen Anreiz für Schlepper.

Ganz unplausibel sei das Argument nicht, findet Petra Bendel, Professorin für politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Es seien aber andere Gründe, deretwegen Menschen nach Europa kämen.

SZ: Frau Bendel, Unionspolitiker werfen Horst Seehofer vor, mit dem Notfallmechanismus "neue Anreizeffekte" zu schaffen. Was ist denn dran an dem Argument des sogenannten Pull-Faktors?

Petra Bendel: Wir haben keinerlei wissenschaftliche Belege dafür, dass die Aufnahme von Geflüchteten oder die Seenotrettung an sich ein Pull-Faktor ist. Ganz unplausibel ist dieses Argument natürlich nicht, weil sich Menschenschmuggler sehr schnell auf neue Gegebenheiten einstellen - auf neue Routen zum Beispiel. Staaten können aber darauf reagieren. Der Notfallmechanismus wird ja zunächst einmal nur für sechs Monate eingesetzt. Sollte sich zeigen, dass er Fluchtanreize schafft, kann dieser Mechanismus jederzeit einseitig gekündigt werden. Die Innenminister haben dadurch die Möglichkeit, flexibel zu reagieren. Die Befristung hat aber auch mit der neuen Europäischen Kommission zu tun, die ab November einen dauerhaften Mechanismus etablieren soll.

Wenn der Pull-Faktor wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden kann, was treibt dann Menschen nach Europa?

Der Pull-Faktor ist natürlich ein sehr simples Argument. Menschen fliehen vor allem vor Verfolgung und Krieg nach Europa. Sie migrieren aus Gründen der Armut und des Klimawandels. Die Gründe für Migration sind viel komplexer als das Pull-Faktor-Argument.

Welchen Effekt hätte es, die private Seenotrettung einzustellen? Oder anders gefragt: Wie wäre es, wenn die EU wieder aktiv Seenotrettung betreiben würde?

Die Studien, die wir haben, datieren aus einer Zeit, in der die italienische Küstenwache noch Seenotrettung betrieben hat. Da ist keine eindeutige positive Korrelation von staatlicher Seenotrettung und einem höheren Aufkommen von Geflüchteten zu sehen.

Konnte man erkennen, dass sich weniger Menschen auf den Weg gemacht haben, als die Häfen geschlossen wurden?

Nein, da gibt es keine Korrelation. Wir sehen aber im Gegenteil, dass der Anteil derer, die im Mittelmeer ertrinken, steigt. Das Risiko, dass mehr Menschen sterben, wird höher, wenn weniger Seenotretter auf dem Wasser sind.

Bei der Konferenz der EU-Innenminister will Horst Seehofer mehr Staaten als Frankreich, Italien und Malta für den Notfallmechanismus gewinnen. Wie kann ihm das gelingen?

Je mehr es sind, desto solidarischer und desto fairer kann eine Verteilung gelingen. Die EU sollte natürlich auch Anreizsysteme schaffen, die es dann weiteren Partnern schmackhaft machen, mitzumachen. Fördergelder sind ein Szenario, das die EU schon lange diskutiert hat und das jetzt vielleicht mit der neuen Kommission umgesetzt werden kann. Sicher ist, dass die Dublin-Verordnung zumindest um einen Solidaritätsmechanismus ergänzt, wenn nicht gar ganz durch ein faireres Verfahren ersetzt werden muss.

Die Aufnahmestaaten können aus dem Notfallmechanismus jederzeit aussteigen, wenn es ihnen zu viel wird. Kann man so überhaupt verlässlich zusammenarbeiten oder geht es in der Migrationspolitik nur mit Freiwilligkeit?

Im Moment ist Freiwilligkeit wohl die einzige Möglichkeit. Ein Mechanismus muss zuerst auf dieser Basis etabliert werden, um dann über Anreizsysteme möglichst viele Mitgliedsstaaten dafür zu gewinnen. Obligatorische Quoten, die die EU-Kommission mal vorgeschlagen hatte, waren politisch nicht durchsetzbar.

Horst Seehofer forderte in der Vergangenheit vehement eine "Obergrenze" für Flüchtlinge. Wie bewerten Sie jetzt seinen Wandel in der Frage aus Seenot Geretteter?

Man muss begrüßen, dass der Minister ein Gelegenheitsfenster gesehen und auch genutzt hat, nämlich den Amtsantritt der neuen italienischen Regierung. Das ist eine Chance, eine jahrelange Handlungsblockade innerhalb der EU und zwischen ihren Mitgliedsstaaten aufzubrechen.

Könnte diese Aufnahmeregelung den Grundstein für eine neue Asylreform legen?

Das wäre der neuen EU-Kommission zu empfehlen. Sie sollte auf diesen Grundstein aufbauen und jetzt endlich einen dauerhaften Verteilungsmechanismus etablieren. Das Innenministertreffen ist eine Möglichkeit, eine politische Einigung zu finden. Es kann aber nur das Türchen sein, das für einen solidarischen, verlässlichen und dauerhaften Verteilungsmechanismus geöffnet wird, der dann das Herzstück der längst überfälligen Reform eines europäischen Asylsystems sein soll.

Das Abkommen sieht nur Entlastung für Malta und Italien vor - für andere Mittelmeer-Staaten wie Griechenland oder Zypern nicht.

In Griechenland sehen wir einen ganz massiven Anstieg der Zugänge über den Seeweg und vor allem über den Landweg. Die neue griechische Regierung muss hier dringend entlastet werden, insbesondere, weil sie bedroht ist durch die Situation in der Türkei und die Drohung Erdoğans, der mit der EU geschlossenen EU-Türkei-Erklärung nicht mehr nachzukommen.

Wie ernst ist diese Ankündigung Erdoğans zu nehmen?

Die Türkei ist einem erheblichen Migrationsdruck ausgesetzt durch die jüngste Regime-Offensive in Idlib im Nordwesten Syriens. Sie hat wohl zur größten Migrationsbewegung seit Beginn des Syrienkrieges geführt. Viele Geflüchtete aus Syrien machen sich in Richtung Türkei auf. Das beunruhigt Erdoğan natürlich zusehends. Das ist für ihn eine außen- wie innenpolitisch schwierige Situation. Er ist ein unberechenbarer Partner für die EU.

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