Süddeutsche Zeitung

Seenotrettung:Menschenleben kommen auf dem Meer zuerst

Sizilianische Staatsanwälte beantragen, ein Verfahren gegen Retter schiffbrüchiger Migranten einzustellen. Ihre Argumente könnten die Arbeit aller NGOs im Mittelmeer künftig erleichtern.

Von Andrea Bachstein

Mit illegaler Einwanderung und Rettung von Migranten aus Seenot müssen Richter und Staatsanwälte in Agrigent im Laufe der Jahre Spezialisten geworden sein. Schließlich fallen in die Zuständigkeit des Gerichts in der sizilianischen Provinzhauptstadt unter anderem die Insel Lampedusa, auf der jedes Jahr Tausende der Mittelmeer-Bootsflüchtlinge ankommen, und das Hafenstädtchen Porto Empedocle, in dessen Aufnahmezentrum viele der auf Lampedusa Gelandeten verlegt werden.

Einige Fälle der Agrigenter Juristen haben international Schlagzeilen gemacht. Als der damalige italienische Innenminister Matteo Salvini untersagte, dass gerettete Migranten von überfüllten Schiffen an Land gehen, schritten Staatsanwälte von dort ein und sorgten dafür, dass die Menschen von Bord kamen. Zudem leiteten sie Ermittlungen gegen den Lega-Politiker ein - wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauchs. Auch das Verfahren gegen die deutsche Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete wurde in Agrigent eingestellt. Nun haben Staatsanwälte dort erneut beantragt, ein Verfahren einzustellen, und ihre Argumentation könnte die Rechtslage für private Seenotretter künftig deutlich verbessern.

In dem Fall nun geht es um das Schiff Mare Jonio der Organisation "Mediterranea Saving Humans" und Ereignisse vom Mai 2019. Ein dunkelgrünes Schlauchboot war damals am Sinken, 40 Seemeilen vor Nordafrikas Küste, darauf 30 Menschen, unter ihnen zwei Schwangere und eine Zweijährige. Die Mare Jonio holte die Migranten aus Lebensgefahr an Bord und landete mit ihnen auf Lampedusa - obwohl auf Weisung von Salvinis Innenministerium die Küstenwache dies untersagt und übermittelt hatte, die Migranten der libyschen Küstenwache zu übergeben.

Sie hätten Beihilfe zu illegaler Einwanderung geleistet, wurde den für das Schiff Verantwortlichen vorgeworfen. Zudem sollen sie italienisches Schifffahrtsrecht verletzt haben, weil ihr Schiff nicht zum Transport von Personen in Notsituationen zugelassen gewesen sei - es wurde nach der Aktion beschlagnahmt.

In Agrigent befanden die Staatsanwälte jedoch, die Mannschaft der Mare Jonio sei verpflichtet gewesen, den Menschen in dem lecken Gummiboot zu helfen. Und sie argumentierten italienischen Medien zufolge über den Fall hinausgehend: Das Verbrechen der Beihilfe zu illegaler Einwanderung könnten nur Schleuser begehen und jene, die verantwortlich sind für den Transport von Migranten - nicht aber deren Retter, denn "sie handeln, weil sie dazu gezwungen sind aus der Notwendigkeit, Menschen zu retten". Die Rettung von Menschen auf See stehe über staatlichen Regeln und Abkommen zur Bekämpfung illegaler Einwanderung. Und Menschen in unsicheren Schlauchbooten auf dem Meer müsse man grundsätzlich in Gefahr sehen.

Beihilfe zu illegaler Einwanderung ist einer der Vorwürfe, die immer wieder gegen Angehörige von Rettungsorganisationen erhoben wurden, es landeten aber auch schon Kapitäne von Fischerbooten, die Schiffbrüchige aufnahmen, mit dieser Anklage in Italien vor Gericht, daher sind die grundsätzlichen Argumente aus Agrigent besonders spannend.

Bei dem Punkt, dass die Mare Jonio gar nicht hätte eingesetzt werden dürfen zum Personentransport in Notlagen, wurden die Ermittler ebenfalls grundsätzlich: Es habe zur fraglichen Zeit kein italienisches Gesetz gegeben, so schrieben sie laut der Berichte, das die Pflicht enthalte, ein ziviles Schiff für Rettungsaktionen zu zertifizieren. Auch andere NGO-Schiffe wurden in den vergangenen Jahren beschlagnahmt, etwa jenes der Organisation Sea-Watch, dabei tauchte unter den Begründungen auf, die Schiffe hätten keine Zulassung als Rettungsschiffe. Auch im deutschen Schifffahrtsrecht existiert im Übrigen die Kategorie privater Rettungsschiffe nicht.

Rechtens sei es auch gewesen, dass die Retter die Schiffbrüchigen nicht der libyschen Küstenwache übergaben, wie es Innenminister Salvini angeordnet hatte, befanden die Staatsanwälte in ihrem Antrag zur Verfahrenseinstellung. Denn Gerettete müssten an einen sicheren Ort gebracht gebracht werden, so steht es in internationalen Seerechts- und Flüchtlingsvereinbarungen. Libyen, wo 2019 kriegsähnlich gekämpft wurde, sei keinesfalls sicher gewesen, daher sei die Entscheidung, Libyen nicht anzulaufen, "absolut legitim und nicht angreifbar".

Libyen gilt nach Einschätzung der UN und anderer Organisationen bis heute nicht als sicherer Ort für Flüchtlinge, auch wenn dort derzeit nicht gekämpft wird. Die Staatsanwälte in Agrigent hätten ihrer Begründung ein Dokument des UN-Flüchtlingskommissariats beigelegt, berichtete La Repubblica, in dem es heißt, Schiffskapitäne dürften weder angewiesen werden, Gerettete nach Libyen zu bringen, noch sich dazu genötigt fühlen aus Angst vor Bestrafung oder weil sich die Zuweisung sicherer Häfen hinziehe.

"Das Verhalten der unter Ermittlung Stehenden stellt sich nicht als ungesetzlich dar", so wurde es in Agrigent formuliert, weil es sich im Rahmen der internationalen und übernationalen Verpflichtungen zur Rettung von Menschenleben auf See bewege. Das alles lässt sich auch als späte Ohrfeige für Salvinis "Politik geschlossener Häfen" interpretieren, und es könnte zunächst eine Blaupause sein für jene Juristen im zwei Autostunden von Agrigent entfernten Ragusa, die in einem weiteren Ermittlungsverfahren gegen die Leute der Mare Jonio zu entscheiden haben. Aber es könnte wichtig sein für alle NGOs, die im Mittelmeer Migranten retten - wenn das Verfahren antragsgemäß endgültig eingestellt werden sollte.

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