SeenotrettungWar es ein gezielter Angriff?

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Die „Ocean Viking“ der Organisation SOS Méditerranée.
Die „Ocean Viking“ der Organisation SOS Méditerranée. (Foto: Gerard Bottino/IMAGO/ZUMA Wire)
  • Die libysche Küstenwache hat am vergangenen Sonntag nach Angaben von SOS Méditerranée gezielt auf die Brücke der "Ocean Viking" geschossen, die 87 gerettete Migranten an Bord hatte.
  • Die italienische Justiz ermittelt nun zu dem Vorfall in internationalen Gewässern, auch die EU verlangt Aufklärung über den zwanzigminütigen Angriff.
  • SOS Méditerranée fordert ein Ende der EU-Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache und kritisiert die Finanzierung "extrem gewalttätiger Partner".
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Die Situation auf dem Mittelmeer bei der Rettung schiffbrüchiger Migranten spitzt sich zu. Die Hilfsorganisation SOS Méditerranée berichtet von einem Beschuss durch die libysche Küstenwache. Nun ermittelt die italienische Justiz.

Von Marc Beise, Rom

Auf dem Handyvideo der Seenotretter sieht man das Patrouillenboot der libyschen Küstenwache bedrohlich nahe, man hört Schüsse. Das Video ist am vergangenen Sonntag von Bord der Ocean Viking aufgenommen worden, dem fast 70 Meter langen ehemaligen Versorgungsschiff unter norwegischer Flagge, das seit 2019 von der Organisation SOS Méditerranée eingesetzt wird. Das Schiff mit dem charakteristischen roten Rumpf und den weißen Aufbauten hatte zu diesem Zeitpunkt 87 von nicht seetauglichen Booten gerettete Migranten an Bord. Es ist eines von etwa 20 Schiffen, die auf hoher See zwischen Libyen, Tunesien und der zu Italien gehörenden Insel Lampedusa versuchen, von Afrika nach Europa flüchtende Menschen vor dem Ertrinken zu retten.

Über den Vorfall 40 Seemeilen nördlich der libyschen Küste in internationalen Gewässern gibt es unterschiedliche Schilderungen. Das Ganze sei unspektakulär gewesen, wiegelte die dortige Küstenwache ab. Man habe nur Warnschüsse abgegeben, um das Rettungsboot zum Abdrehen zu zwingen. Ohnehin würden europäische Hilfsorganisationen bei ihren Beschwerden „immer übertreiben“. Die Mitarbeiter von SOS Méditerranée hatten einen entschieden anderen Eindruck und sprechen von einem gezielten Angriff. Von Bord des Patrouillenbootes sei direkt auf die Fenster der Brücke gezielt worden und auch die Rettungsboote der Ocean Viking seien beschossen und schwer beschädigt worden. Der Angriff habe zwanzig Minuten gedauert.

„Ihre Absicht war, Menschen umzubringen“, sagt eine Seenotretterin

Schüsse der Küstenwache hat es immer wieder gegeben, dieses Mal sei es schlimmer gewesen, zitierte der Evangelische Pressedienst (epd) die Seenotretterin Lucille Guenier von SOS Méditerranée. Nur durch viel Glück sei niemand getötet worden. Dieses Ausmaß an Gewalt sei neu: „Ihre Absicht war, Menschen umzubringen.“ Eine Eskalation sieht auch Gorden Isler von der deutschen Organisation Sea-Eye. Er berichtet von verschärften Pressionen und gefährlichen Manövern durch Patrouillenboote, die einige Rettungsschiffe bereits erlebt hätten. „Dies hier ist nun eine neue Dimension.“  Sea-Eye lasse sein Schiff erst wieder auslaufen, wenn die Besatzung mit schusssicheren Westen ausgestattet sei.

Mittlerweile ermittelt die italienische Justiz. Man wolle rekonstruieren, was passiert sei, sagte die zuständige Staatsanwältin in Syrakus auf Sizilien der Nachrichtenagentur Ansa. Auch die Europäische Kommission in Brüssel sondiert die Lage. Die EU arbeitet mit den Machthabern in Libyen zusammen, um die Zahl der Migranten zu senken.

Das betroffene Patrouillenboot der Küstenwache war nach italienischen Medienberichten ein Geschenk Italiens. Die Staaten, von denen aus Migranten in oft nicht seetüchtigen Schlepperbooten aufbrechen, erhalten Geld und Hilfe dafür, dass sie die Schlepperboote am Auslaufen hindern oder aufhalten. Das ist Teil der Vereinbarungen, welche die Europäische Union auf Druck Italiens beschlossen hat, um die Zahl der Überfahrten zu reduzieren. Diese Abkommen sind hochumstritten, immer wieder gibt es Berichte über schwerwiegende Menschenrechtsverstöße. SOS Méditerranée fordert ein Ende der Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache. Es sei „inakzeptabel, dass die EU extrem gewalttätige Partner finanziert“.

30 000 Menschen sind nach einer Schätzung seit 2015 auf dem Seeweg gestorben

Wohl auch wegen dieser Abkommen hat die Zahl der Überfahrten zuletzt nachgelassen, nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR kamen in diesem Jahr monatlich zwischen 3000 und 7000 Menschen auf dem Seeweg nach Italien; insgesamt 2025 bisher mehr als 40 000; im Jahr 2023 waren es bis August bereits 112 000 Menschen gewesen. Noch immer aber sind viele Tote zu beklagen, so starben vor wenigen Wochen mindestens 26 Migranten vor Lampedusa, als zwei Boote kenterten. Viele Unglücksfälle werden nie bekannt. Nach UN-Schätzungen sind seit 2015 etwa 30 000 Menschen auf See verstorben oder verschwunden, die Dunkelziffer ist hoch. Von hundert Menschen, die per Boot Italien erreichen wollen, verlieren mindestens drei ihr Leben. Im Schnitt verschwinden täglich sechs Menschen, darunter auch viele Kinder.

Diese Zustände seien unerträglich, begründen private Organisationen ihr Engagement. Sie beklagen gleichzeitig, dass sie systematisch behindert würden. So müssen die Schiffe nach italienischem Recht mit den Geretteten oft weit entfernte Häfen anlaufen und sind entsprechend lange nicht zurück im Operationsgebiet. Wenn ein Rettungsschiff wegen unhaltbarer Zustände an Bord einen näher gelegenen Hafen anläuft, wird es dort tagelang festgesetzt und die Organisation mit einer hohen Strafzahlung belegt; so hat es die Regierung Meloni kurz nach ihrem Amtsantritt 2023 beschlossen. Dies ist gerade wieder der Organisation Mediterranea Saving Humans geschehen, deren Schiff Mediterranea den Hafen Genua im Norden von Italien zugewiesen bekommen hatte, aber stattdessen in Trapani auf Sizilien anlegte. Vor italienischen Gerichten erhalten die Organisationen häufig Recht, allerdings erst Wochen oder Monate später.

Auch das Segelschiff Trotamar III wird gerade in Lampedusa festgehalten. Der Besatzung wird interessanterweise vorgeworfen, die libysche Küstenwache nicht informiert zu haben, nachdem sie Menschen aus einem seeuntüchtigen Boot gerettet haben. Die Bereitschaft, mit den Libyern zusammenzuarbeiten, werde durch die aktuellen Vorgänge nicht gerade befördert, sagt dazu Sea-Eye-Chef Isler.

In Deutschland ansässige Organisationen beklagen ferner eine nachlassende politische Unterstützung im Heimatland. So hatte die Ampelregierung auf Initiative der Grünen Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt bewilligt, die neue Bundesregierung hat diese Praxis eingestellt. Auch in deutschen Kommunen, die bisher Geld und Patenschaften übernommen hatten, wächst der Widerstand vor allem rechter Parteien. Den privaten Seenotrettern wird vorgeworfen, sie heizten das Schleppertum weiter an, allein schon die Anwesenheit der Rettungsschiffe sei ein zusätzlicher Anreiz, die gefährliche Reise zu wagen. Dieser Zusammenhang wird allerdings von Experten bezweifelt.

Doch es gibt auch andere Beispiele: Gegen den Trend und gegen die Stimmen von CSU und AfD hat die Stadt Regensburg in Bayern im Juli eine Patenschaft für das Rettungsschiff Sea-Eye 5 übernommen. Die Organisation war vor genau zehn Jahren in Regensburg gegründet worden und hat zwei Schiffe im Einsatz.

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