Süddeutsche Zeitung

Seehofer und Merkel:Die große Störung

Seehofer belehrt die Kanzlerin auf dem CSU-Parteitag wie ein Schulmädchen. Die Brüskierung zeigt, wie sehr er in die Defensive geraten ist. Aber auch Merkel ist derzeit eher eine Getriebene.

Kommentar von Robert Roßmann

Angela Merkel ist jetzt zehn Jahre Kanzlerin, niemand in der EU amtiert länger als die CDU-Chefin. Wer so lange regiert, hat oft das Gefühl, alles schon einmal erlebt zu haben. Aber so etwas ist selbst Merkel noch nicht passiert. Beim CSU-Parteitag musste sich die Kanzlerin auf offener Bühne wie ein Schulmädchen von Horst Seehofer belehren lassen. 13 Minuten dauerte die Demütigung. Für die Kanzlerin gab es bis zum letzten Satz des CSU-Chefs kein Entkommen. Anschließend flüchtete Merkel grußlos aus der Halle.

Selbst lang gediente Kanzlerinnen-Begleiter haben Merkel noch nicht so genervt erlebt wie in diesem Moment. Die Viertelstunde von München, sie dürfte in die Annalen der Schwesterparteien eingehen. Wie konnte so etwas passieren?

Eine Eskalation des Streits hilft keinem von beiden

Merkel und Seehofer haben in den vergangenen Wochen kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie sich in der Flüchtlingspolitik nicht einig sind. Aber die beiden sind auch Polit-Profis. Eine Eskalation des Streits hilft keinem von beiden, normalerweise hätten Merkel und Seehofer die Zuspitzung durch Vorabsprachen vermeiden müssen. Dass das nicht gelungen ist, zeigt wie gestört das Vertrauensverhältnis zwischen beiden inzwischen ist. Es zeigt aber auch, in welch gehetzter Lage Seehofer und Merkel sind. Beide können sich des Rückhalts ihrer Parteien nicht mehr vorbehaltlos sicher sein.

Seehofer spürt nicht nur den heißen Atem von Markus Söder im Nacken. Er hat auch mit der CSU-Landtagsfraktion zu kämpfen, die im Streit um die neue Startbahn für den Münchner Flughafen den Aufstand gegen Seehofers moderaten Kurs probt. Außerdem rumort es an der Basis wegen der hohen Flüchtlingszahlen gewaltig. Das Erstarken der AfD trifft die CSU hart: Wenn sich neben Freien Wählern und FDP ein weiterer Konkurrent festsetzt, wird die absolute Mehrheit, auf der die Sonderrolle der CSU fußt, fast unmöglich.

Vor diesem Hintergrund meinte Seehofer, Merkel nach ihrer wenig entgegenkommenden Rede in den Senkel stellen zu müssen, um nicht selbst von den ungeduldigen Delegierten abgestraft zu werden. Dabei hat der unter Druck stehende Seehofer dann aber das Maß verloren. Ihm ist sein Auftritt dermaßen aus dem Ruder gelaufen, dass auch viele CSU-Delegierte auf Distanz gingen.

87,2 Prozent sind anderswo gut. In der CSU sind sie eine Watschn

Seehofer erhielt bei seiner Wiederwahl die Quittung. 87,2 Prozent mögen in anderen Parteien ein schönes Ergebnis sein, in der CSU sind sie eine Watschn. Die kommenden Jahre dürften für Seehofer nicht einfacher werden. Schon ist er für viele nur noch ein Auslaufmodell. Seine Rede auf dem Parteitag hat diesen Eindruck verstärkt. Der CSU-Chef sprach vor allem über die stolze Vergangenheit - was er in Zukunft mit der CSU vorhat, verriet er den Delegierten abgesehen von ein paar Floskeln nicht.

Merkels Lage ist kaum besser. Die CDU will zwar auch bei der nächsten Wahl mit der Kanzlerin antreten, die Spekulationen um Wolfgang Schäuble sind bisher Mediengespinste. Immer mehr CDU-Granden verlangen aber mit immer härteren Bandagen eine öffentliche Abkehr der Kanzlerin von ihrem Kurs in der Flüchtlingspolitik.

Merkel hat auf diesen Druck schon reagiert. Ihre große Koalition hat sich bereits auf zwei Pakete zur drastischen Verschärfung des Asylrechts verständigt. Die Union will abgelehnte Asylbewerber sogar nach Afghanistan abschieben. Und Merkels Gespräche mit dem Autokraten Erdoğan dienen vor allem dazu, die Türkei dazu zu bewegen, den Flüchtlingsstrom nach Deutschland zu unterbrechen. Die Kanzlerin der Willkommenskultur ist nur noch eine Fassade.

Eine Kontigentlösung könnte zum Ausweg für Merkel werden

Eine national festgelegte Obergrenze oder gar eine Schließung der deutschen Grenze für Flüchtlinge lehnt Merkel aber weiterhin vehement ab. Sie hält beides für nicht praktikabel. Außerdem wäre es ein nicht zu kaschierendes Eingeständnis, dass ihr bisheriger Kurs falsch war - und all die Seehofers und Söders recht hatten. Ein solches Eingeständnis würde Merkels bröckelnde Autorität vollends untergraben. Auch deshalb trat sie auf dem CSU-Parteitag so kompromisslos auf. Die Kanzlerin setzt lieber auf eine Kontingent-Lösung mit Erdoğan.

Sie könnte zum Ausweg aus Merkels Bredouille werden: Die Türkei unterbricht an ihrer Grenze zur EU den Zug der Flüchtlinge, dafür nimmt Europa den Türken ein festes Kontingent an Flüchtlingen ab. Da sich dann viel weniger Flüchtlinge bis zur deutschen Grenze durchschlagen und dort um Asyl bitten könnten, wäre das Kontingent eine Art faktische Obergrenze. Voraussetzung für eine derartige Lösung ist allerdings, dass sich die anderen EU-Staaten ausreichend an der Aufnahme der Kontingent-Flüchtlinge beteiligen. Danach sieht es bisher aber noch nicht aus. Und so dürften Seehofer und Merkel noch länger eher Getriebene als Agierende bleiben.

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SZ vom 23.11.2015/cmy
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