Sebastian Kurz hat sich das Timing offensichtlich gut überlegt. An dem Tag, an dem seine Landsleute ihr künftiges Staatsoberhaupt bestimmen sollten und es wegen der Klebstoffaffäre nun doch nicht tun, ist ein großes Interview mit dem österreichischen Außenminister erschienen. In einem Gespräch mit der Welt am Sonntag redet der alerte Jungkonservative Kurz aber nicht über die bislang missglückte Bundespräsidentenwahl. Ihm geht es um etwas anderes, er will etwas vorantreiben im Themafeld, das politisch Wien wie Berlin seit einem Jahr dominiert: die Flüchtlingskrise.
Kurz wiederholt viel von dem, was er schon lange sagt. Zum Beispiel, dass man die Außengrenzen der Europäischen Union schließen soll. Er lässt ein bisschen Eigenlob anklingen, wenn er über die Schließung der Balkanroute spricht, die die Wiener rot-schwarze Regierung - und darin maßgeblich Kurz - initiiert hat.
Bemerkenswert ist das Interview wegen anderer Passagen. Sie weisen darauf hin, wohin Kurz steuert und verdienen genauere Betrachtung und Einordnung. Innenpolitisch macht er seine christsoziale ÖVP und sich kompatibel mit der radikal rechten FPÖ. Außenpolitisch tendiert er klar in Richtung der Visegrád-Staaten. Diese Gruppe besteht aus Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei - wesentliche Bestandteile des vor fast 100 Jahren untergangenen Habsburger-Reiches. Drei zentrale Aspekte im Überblick:
Kritik an Deutschland: Mehrmals lässt Kurz in dem Interview anklingen, dass er den Kurs Berlins in der Flüchtlingspolitik für falsch hält, allerdings ohne Kanzlerin Angela Merkel direkt anzugehen. Kurz beklagt, dass die deutsche Bundesregierung beim Wiener Flüchtlingsgipfel unlängst angekündigt hat, jeden Monat ein paar hundert Flüchtlinge aus Italien und Griechenland nach Deutschland zu holen. Die Solidarität mit den Grenzstaaten rührt an einem zentralen Punkt der EU-Flüchtlingspolitik. Denn auch die Wiener Regierung hat den Beschluss für eine Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU mitgetragen. Nun sagt Kurz: "Diese Politik ist falsch". Denn durch die Übernahme von Flüchtlingen gäbe es einen weiteren Anreiz für weitere Migranten, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Damit liegt Kurz auf der Linie mit den Staaten Tschechien und Polen, die bislang kaum Flüchtlinge aufgenommen haben.
Demonstrative Nähe zu Visegrá d-Staaten: Bis vor Kurzem orientierte sich Wien in vielen Dingen am Kurs Berlins. Damit hat Kurz gebrochen. Sein Blick richtet sich nach Osten. Kurz wiegelt er auch im aktuellen Interview eine Frage nach dem ungarischen Referendum zur Flüchtlingspolitik ab. Keine kritische Silbe kommt ihm über die Lippen. Stattdessen äußert er Verständnis und Lob für die Haltung der Visegrád-Staaten. "Sie haben die Einladungspolitik von Beginn an nie unterstützt", sagt Kurz. Kritik an aus Brüssel, Berlin und anderen EU-Metropolen verbittet sich der Minister wortreich: "Es ist gefährlich, wenn einige Staaten in der Europäischen Union den Eindruck erwecken, anderen Mitgliedsländern moralisch überlegen zu sein."
Anknüpfungspunkte für FPÖ: Mit der Annäherung an die Visegrád-Staaten bewegt sich Kurz innenpolitisch immer weiter nach rechts. Dort wartet die radikal rechte FPÖ als potenzieller Koalitionspartner im Bund, deren Parteichef Heinz-Christian Strache erst vor Kurzem einen Beitritt Österreichs in die Visegrád-Gruppe forderte. Auch teilt die FPÖ die Kritik an Brüssel und an den Deutschen inhaltlich. Nur formuliert Kurz seine verbalen Salven galanter als der aggressiv auftretende Strache. So besetzt Kurz auf freundlichere Weise zunehmend FPÖ-nahe Positionen in der Europa- und Ausländerpolitik. Gerade Kritik an den Deutschen kommt in Österreich zunehmend an. Damit holt er Pluspunkte beim FPÖ-Anhang und macht sich persönlich kompatibel für Straches Partei. Eine Koalition mit der FPÖ im Bund will Kurz im aktuellen Interview explizit nicht ausschließen. Ob er Kanzler einer solchen Regierung werden möchte? Darauf antwortet er: "Diese Frage stellt sich nicht".
Die demonstrativ eigenständige Außenpolitik von Sebastian Kurz birgt Risiken. Einerseits verstärkt er Erosionstendenzen innerhalb der EU. Auf der anderen Seite geht es auch um das Eigenverständnis Österreichs. Das Land im Herzen des Kontinents ist seit jeher ein Scharnier zwischen Nord und Süd, zwischen West und Ost. Dass sich die Österreicher doch eher als Westeuropäer sehen, zeigt ein Blick in die Geschichte: Der Erste Weltkrieg war für Wien vor allem ein Krieg gegen das Slawentum. Und noch vor wenigen Jahren war ein Wahlkampfschlager der deutschtümelnden FPÖ die Angst vor Kriminellen und billigen Arbeitskräften aus den östlichen Nachbarstaaten.
Doch wegen der Flüchtlingskrise vollzieht Sebastian Kurz die Volte: Der Außenminister schickt sich an, Österreich auf den Weg nach Osteuropa zu bringen. Auf die Unterstützung der EU-feindlichen FPÖ kann er sich verlassen.
Kurz' höflich geschniegeltes Auftreten, sein Alter von 30 Jahren, und auch seine politischen Aussagen kommen bei den Österreichern gut an. Kurz ist populärer als Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) und rangiert in Umfragen noch deutlicher vor FPÖ-Chef Strache. Allerdings gibt es eine massive Diskrepanz von Parteien und Frontleuten: Die ÖVP profitiert bislang nicht von Kurz' Beliebtheit. Sie dümpelt derzeit rund 15 Prozentpunkte hinter der FPÖ. Popularität einzelner Personen ist flüchtig, eine einzelne Affäre kann alles jäh zunichte machen.
Ein weiterer Aspekt in dem Interview ist interessant, denn es enthält eine offene Flanke von Kurz. Beim Gesprächseinstieg wird er auf die Grenzöffnung im Herbst 2015 angesprochen. Kurz will Merkel dafür nicht kritisieren, überhaupt: "Der Blick in die Vergangenheit und die Suche nach Schuldigen nützt ja nichts", sagt Kurz nicht ohne Eigensinn. Schließlich war es seine Regierung in Wien, die damals die Deutschen um Hilfe angerufen hat. Kurz, damals auch schon Außenminister, werkelte an jenem turbulenten 4. September 2015 an der Grenzöffnung mit, die er nun verdammt. Sein Beitrag: Gemeinsam mit seinem deutschen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier formulierte er einen Text, mit dem die Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn offiziell bekannt gegeben wurde, schreibt die Zeit.
Der junge Polit-Star betreibt seinen Kurs also durchaus auch mit persönlichem Risiko. Kurz und seine ÖVP hoffen offensichtlich, dass die Popularität des Ministers doch noch auf seine Partei übergeht. Doch der Trend geht eher in Richtung Stagnation. Bleibt es bei den aktuellen politischen Kräfteverhältnissen in Österreich, könnte Kurz nicht als jüngster Regierungschef Österreichs in die Geschichte eingehen. Sondern als das Polittalent, das sein Land vom Westen entfremdet und Strache das Kanzleramt beschert hat.