Schweizer Volksabstimmung:Brennpunkt Tessin

Heavy snowfall in Switzerland

Hier, im verschneiten Tessin, bekam die SVP die nötigen Stimmen für die Mehrheit bei der Abstimmung gegen "Massenzuwanderung".

(Foto: dpa)

68,2 Prozent haben im Tessin Ja zur Masseneinwanderungsinitiative gesagt, in manchen Orten lag die Zustimmung sogar bei mehr als 90 Prozent: Der Kanton fühlt sich von italienischen Grenzgängern überrannt, von Bern vernachlässigt. Gewerkschafter und Grüne schlagen hier Töne an, die man so nicht gewohnt ist. Eine Spurensuche.

Von Wolfgang Koydl, Lugano

Giftgrün ist der Ordner mit den Bewerbungsunterlagen, der vor Silvio Tarchini liegt, und ziemlich gallig ist die Laune, mit der er darin herumblättert. Gerade hat wieder etwas den Missmut des Unternehmers erregt, und sein Zeigefinger fährt auf die Seite hinab, als ob er ein seltenes, aber nicht besonders appetitliches Insekt aufspießen wollte. "Sehen Sie", ruft er und zieht die Stirnfalten noch höher, "sehen Sie diesen Matteo." Sein Ton wird höhnisch: "Ein Schreiner ist er, aber er will Kleidung verkaufen bei Gucci oder Dior - nur weil er Tessiner ist."

Seit Sonntag könnten sich Matteos Chancen auf einen Job verbessert haben - gerade weil er Tessiner ist. Denn die Bürgerinnen und Bürger des Schweizer Südkantons haben sich deutlicher als alle anderen Eidgenossen für eine Begrenzung der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte ausgesprochen: 68,2 Prozent der Tessiner stimmten für die Initiative gegen Masseneinwanderung. In manchen Orten erreichte die Zustimmung realsozialistische Ausmaße. Im Dörfchen Isone etwa zählte man mehr als 90 Prozent Ja-Stimmen.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass das Tessiner Votum dem Volksbegehren landesweit zu seiner hauchdünnen Mehrheit von weniger als 20 000 Stimmen verhalf. Mit seiner Entscheidung machte der Kanton seinem Ärger über die Missstände Luft, die sich als Folge der Personenfreizügigkeit jahrelang aufgebaut haben. Der Zorn entzündet sich an den 60 000 italienischen Pendlern, die jeden Tag bei Chiasso über die Grenze strömen und im Tessin in Lohn und Brot stehen. Vor zehn Jahren waren es nur halb so viele.

In einem Kanton mit etwa 300 000 Bewohnern machen sie mehr als ein Viertel aller Berufstätigen aus. Auf deutsche Verhältnisse umgerechnet bedeutet dies, dass jeden Tag 2,5 Millionen Tschechen zum Arbeiten nach Bayern kämen. Die italienischen Grenzgänger verstopfen die Straßen, sie parken ihre Autos, wo sie wollen, vor allem aber drücken sie die Löhne und zwingen so junge Tessiner, jenseits des Gotthard in der Deutsch-Schweiz Arbeit zu suchen.

"Schuld sind nicht die armen Italiener, schuld sind die Unternehmen, die nur noch Dumpinglöhne zahlen, und die Politiker, die das erlauben", sagt Alessandro Conrad. Der 21-Jährige aus Lugano hat mit Gleichaltrigen eine Facebook-Seite mit dem Titel "Basta stare zitti" (Schluss mit dem Schweigen) aufgeschaltet, welche die Notlage junger Tessiner thematisiert. Einer der schuldigen Unternehmer ist in ihren Augen Silvio Tarchini, dem das Einkaufszentrum Foxtown in Mendrisio auf halbem Weg zwischen Lugano und der italienischen Grenze gehört. Denn auch die 160 Läden, Boutiquen und Restaurants seiner Outlet-Mall beschäftigen mehrheitlich Angestellte aus dem Nachbarland.

"Wer will, kriegt einen Job"

"Gut 70 Prozent der tausend Beschäftigten sind frontalieri, Grenzgänger", gibt Tarchini zu. Doch er schränkt ein: "Mit Tessinern allein könnten wir nie alle Jobs besetzen." Der Unternehmer hatte sich gehörig Ärger mit seiner Bemerkung eingehandelt, dass die Tessiner nur "nicht flexibel genug" seien, um sich auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen. "Wer will, kriegt einen Job", bekräftigt er auch nun wieder. Eine Gruppe von Aktivisten hatte ihm daraufhin den Ordner mit den abgelehnten Bewerbungen überreicht, den er nun widerwillig von sich schiebt.

Einer der Urheber dieser Aktion war Lorenzo Quadri. Der jungenhaft wirkende 39-Jährige mit dem blonden Pferdeschwanz vertritt die populistische Lega dei Ticinesi im Parlament in Bern. Im Hauptberuf gibt er die Sonntagszeitung Mattino della domenica heraus, ein buntes Kampfblatt. Am Sonntag vor der Abstimmung hatte er Mel Gibson als schottischen Freiheitshelden Braveheart auf den Titel gehoben, unter der Überschrift "Lotta all' ultimo voto" - Kampf bis zur letzten Stimme.

"Die Lega weist in Bern seit Jahren darauf hin, dass sich hier ein Problem zusammenbraut", sagt er. "Aber man hat uns immer damit abgespeist, dass es statistisch gesehen nicht so schlimm ist." Das Votum gegen die Zuwanderung sieht er denn auch als einen letzten, verzweifelten Hilfeschrei an die Bundesregierung. Von der Gleichgültigkeit hat seine vor 23 Jahren gegründete Partei freilich auch politisch profitiert: Die Lega ist aus dem politischen Leben nicht mehr wegzudenken. Im vergangenen Jahr eroberte sie sogar das Amt des Bürgermeisters von Lugano.

In seinem Kampf gegen die Einwanderung hatten Quadri und die Lega einen unerwarteten Verbündeten gefunden: Die Verdi, der Tessiner Ableger der Schweizerischen Grünen, schlossen sich dem Vorhaben an. Deren Vorsitzender, Sergio Savoia, sprach unverhohlen davon, dass der Kanton von italienischen Firmen, die sich nun ebenfalls in großer Zahl im Tessin niederlassen, buchstäblich "kolonisiert" werde.

Auch andere Bemerkungen klingen nicht so, wie man sie von einem grünen Spitzenpolitiker erwartet. "Die Personenfreizügigkeit", sagt er, "bereitet eine Katastrophe für eine ganze Generation vor. Ich will nicht, dass unsere Kinder das Tessin verlassen und jenseits des Gotthard Arbeit suchen müssen, weil sie daheim keine finden." Seinen Parteifreunden in Bern, Zürich und Genf bereitete der ehemalige populäre Radiomann mit diesen Äußerungen keine Freude. Aber auch sie ließen die Tessiner Parteigliederung gewähren. Die Annahme der Initiative durch die Wähler ist für Savoia freilich ohnehin nur so viel wie ein Pflaster auf einer schwärenden Wunde.

Folgen der Krise in Italien

"Solange das eklatante Lohngefälle zwischen Italien und der Schweiz weiter besteht, wird sich nichts ändern", sagt er. "Italien steckt in einer tiefen Krise, und vor unserer Haustür liegt ein Wirtschaftsraum mit acht Millionen, oft gut ausgebildeten Menschen, die dieselbe Sprache sprechen wie wir." "Mamma Svizzera", wie die italienische Lokalzeitung Corriere de Como das reiche Nachbarland unlängst titulierte, ist daher für viele Italiener nicht nur die letzte Hoffnung auf irgendeine Arbeit, sondern auch eine Chance auf eine vergleichsweise extrem gut bezahlte Stelle.

"In meiner Kanzlei haben wir immer wieder Bewerbungen von fertig ausgebildeten Juristinnen aus Mailand erhalten, die als Sekretärin arbeiten wollten", erinnert sich Michele Rossi von der Tessiner Handelskammer. "Wir sind nie darauf eingegangen, aber finanziell wäre es für beide Seiten sinnvoll." In der Tat: Eine Anwaltssekretärin verdient im Tessin mindestens 3800 Franken, also etwa 3100 Euro, eine Jung-Juristin - so sie überhaupt eine Anstellung findet - muss sich in Italien mit 1500 Euro bescheiden. Ähnlich dramatisch sind die Unterschiede in fast allen Berufszweigen.

Lohndumping gehört also oft zum Alltag, auch wenn die Praxis gerne bestritten wird. Sogar der Grüne Savoia kann die "ökonomische Dynamik" nachvollziehen, wenn man "40 Prozent der Lohnkosten einspart". Aber ob eine Einschränkung der Freizügigkeit dieses Problem lösen wird?

Meinrado Robbiani vom christlichen Gewerkschaftsbund OCST empfiehlt einen anderen Ausweg: "So viele verbindliche Gesamtarbeitsverträge wie möglich, mit denen die Gehälter Branche für Branche festgelegt sind", meint er. "Wenn wir das nicht schaffen, drohen landesweite Mindestlöhne." Aber die würden "Mamma Svizzera" noch attraktiver machen.

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