Schweiz:Zwischen Achtung und Ächtung

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Mitglieder der Zeugen Jehovas verteilen die Zeitschrift Der Wachtturm in der Münchner Fußgängerzone. (Foto: Matthias Balk/dpa)

Ein Gericht in Zürich hält grundlegende Kritik an Zeugen Jehovas für zulässig. Vor allem das Thema Kontaktverbot in den Familien war Gegenstand des Verfahrens.

Von Annette Zoch, München

Es war ein wenig beachtetes Urteil, gesprochen von einem Schweizer Gericht, doch es könnte nach Deutschland ausstrahlen: Nach einem Urteil des Bezirksgerichts Zürich durfte eine Mitarbeiterin der Schweizer Sekten-Informationsstelle Infosekta behaupten, dass die religiöse Praxis der Zeugen Jehovas gegen elementare Rechte der Mitglieder und ihrer Angehörigen verstößt. Die Glaubensgemeinschaft ging gegen das Urteil, das im vergangenen Juli gesprochen wurde, nicht in Berufung, und nun ist es rechtskräftig. In Deutschland sind die Zeugen Jehovas seit 2017 in allen Bundesländern eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und damit den Kirchen nahezu gleichgestellt.

Die Zeugen Jehovas in der Schweiz hatten 2015 die Psychologin Regina Spiess wegen übler Nachrede verklagt. Spiess, die auch im Vorstand des Aussteigervereins JZ-Help sitzt, arbeitete damals für Infosekta und hatte dem Schweizer Tages-Anzeiger ein Interview gegeben. In diesem hatte sie von der "menschenrechtswidrigen Praxis der Ächtung" bei den Zeugen Jehovas gesprochen: "Die Gemeinschaft schließt Mitglieder teilweise wegen Nichtigkeiten aus und fordert von den Angehörigen, den Kontakt zu Ausgeschlossenen abzubrechen", sagte Spiess damals der Zeitung, und: "Ächtung ist eine Art von oben verordnetem Mobbing. Es verstößt gegen die Menschenrechte und Verfassung. Jeder Mensch hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit - ein Recht, das die Zeugen Jehovas für sich beanspruchen, aber nicht gewähren."

Berichte von Aussteigern müssten laut einer Enquete-Kommission zurückhaltend bewertet werden

Diese Äußerungen seien wahrheitswidrig und rufschädigend, argumentierten die Zeugen Jehovas - doch der Richter urteilte: Die Beklagte sei in allen Punkten vom Vorwurf der üblen Nachrede freizusprechen. "Die Praxis der Ächtung, wenn auch teilweise verneint, ist schriftlich dokumentiert; es besteht also eine genügende Grundlage, um davon auszugehen, dass diese Praxis existiert und (zumindest teilweise) eingesetzt wird", so das Gericht in seiner Urteilsbegründung. Weiter heißt es in dem Urteil: "Ein solches Verhalten kann durchaus als ,Mobbing' verstanden werden. Mobbing ist eine Verletzung der persönlichen Integrität eines Menschen (...). Diese Art von Mobbing wird auch angewendet, wenn Mitglieder der Zeugen Jehovas nicht mehr glauben oder einen anderen Glauben entwickeln bzw. haben. (...) Implizit wird ihnen also die Glaubens- und Gewissensfreiheit innerhalb der Gemeinschaft verwehrt."

Auch Kinder seien betroffen, sagte Spiess damals dem Tages-Anzeiger und heute der Süddeutschen Zeitung: "Indirekt sind viele Kinder der Zeugen Jehovas von Ächtung betroffen. Wenn ein getauftes älteres Geschwister aussteigt, dürfen die Kinder etwa keinen Kontakt mehr zu ihrem Bruder oder ihrer Schwester haben." Auch diese Aussage war von den Zeugen Jehovas angegriffen worden, auch die Zulässigkeit dieser Aussage hatte das Gericht bestätigt.

Anders als in der Schweiz genießen die Zeugen Jehovas in Deutschland den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dieser Status gibt Glaubensgemeinschaften weitreichende Befugnisse. So können sie zum Beispiel Kirchensteuern erheben und Religionsunterricht anbieten. Diese Möglichkeiten nutzen die Zeugen Jehovas in Deutschland derzeit allerdings nicht, sagt Michael Utsch von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin. "Die Zeugen Jehovas haben kein Interesse an einem gesellschaftlichen oder interreligiösen Dialog. Sie wollten den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts in erster Linie für den Imagegewinn, um aus der Sektenecke herauszukommen."

Im Jahr 2005 hatte das Oberverwaltungsgericht Berlin entschieden, dass die Zeugen die Voraussetzungen für den Körperschaftsstatus erfüllen. Auch das Thema Kontaktabbruch war damals Gegenstand des Verfahrens. Nach Ansicht der Richter gab es keine objektiven Anhaltspunkte für eine solch "eminent familienfeindliche Praxis", man berief sich auf Familienrechtsurteile, Rückfragen bei zuständigen Ministerien anderer Bundesländer sowie Berliner Bezirksämter. Doch: Aussteiger seien bei dem Anerkennungsverfahren gar nicht angehört worden, sagt Udo Obermayer, einst selbst Ältester bei den Zeugen und inzwischen ebenfalls Vorstand im Aussteigerverein JZ-Help. Eine schon 1996 einberufene Enquete-Kommission "Sekten und Psychogruppen" des Bundestags war zu dem Ergebnis gekommen, dass Berichte von Aussteigern zurückhaltend bewertet werden müssten, da diese kaum positive Aspekte über eine Glaubensgemeinschaft vorbringen könnten. "In NRW hat man beim Verfahren sehr lange gezögert und auch Betroffene zu Wort kommen lassen", sagt Michael Utsch. Aber am Ende sei die Entscheidung zugunsten von Pluralität und Religionsfreiheit gefallen. "Eine Körperschaft des öffentlichen Rechts muss sich rechtstreu verhalten, also auch die Grundrechte achten", sagt Obermayer. Dazu gehöre auch die negative Religionsfreiheit - also das Recht, sich ohne Nachteile von einem Glauben abzuwenden.

Die Zeugen Jehovas teilen auf Anfrage mit, dass es das Umgangsverbot nicht gebe. "Stattdessen gilt für den Umgang mit ausgeschlossenen Familienmitgliedern, dass unsere Mitglieder selbst entscheiden, wie sie den von der Bibel vorgegebenen Maßstab umsetzen. Sie haben jedenfalls das grundrechtlich geschützte Recht, über ihren Umgang mit ausgeschlossenen Familienmitgliedern frei zu entscheiden. Insbesondere möchten wir klarstellen, dass ein Ausschluss von Minderjährigen nichts daran ändert, dass sich die Eltern weiterhin liebevoll um die Erziehung des Kindes bemühen werden." Dass sich ein Schweizer Einzelrichter anmaße, "die jahrzehntelangen Untersuchungen deutscher Gerichte, der Ministerien aller Bundesländer sowie des Deutschen Bundestags als irrelevant für seine Urteilsfindung" abzutun, sei "sehr unprofessionell".

Es gebe durchaus einzelne Gemeinden, die beim Ausschluss von Mitgliedern "entspannter sind", sagt Sektenexperte Utsch. "Grundsätzlich ist es aber so, dass Jehovas Zeugen auf ihre Mitglieder einen starken religiösen Druck ausüben und sie durch die Angst vor der Vernichtung in Harmageddon - der Endzeitschlacht - kontrollieren." Erst kürzlich habe er Kontakt zu einer Aussteigerin gehabt. "Sie ist vor einem halben Jahr Großmutter geworden und berichtete, wie sehr es sie belastet, wenn ihre Tochter mit dem Kinderwagen die Straßenseite wechselt."

© SZ vom 17.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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