Schweiz:Zerrissen zwischen Kantonen

SWITZERLAND AUTUMN

Einst war sie bei Bern, seit 1979 gehört die Gemeinde Les Breuleux zum französischsprachigen Kanton Jura.

(Foto: Valentin Flauraud/dpa)

Ein Gericht hat entschieden, dass Moutier vorerst bei Bern bleibt. Doch der Konflikt schwelt weiter.

Von Isabel Pfaff, Bern

Die jüngere Schweizer Geschichte ist arm an Gewalt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts herrscht im Großen und Ganzen gesellschaftliche Kontinuität, aus den Weltkriegen hielt sich die neutrale Eidgenossenschaft weitgehend heraus und auch sonst gelten die Schweizer als friedliebend und kompromissorientiert. Auch deshalb ist der Jura-Konflikt ein merkwürdiges Kapitel in der Geschichte des Landes: ein Jahrzehnte alter Kampf einer Schweizer Region um Unabhängigkeit, oft gewaltsam ausgetragen - und in seiner Gesamtheit bis heute nicht gelöst. Nun hat das Verwaltungsgericht des Kantons Bern am Donnerstag entschieden, dass die jüngste Abstimmung in der Jura-Frage nicht gültig ist. Der alte Kampf geht also in eine neue Runde.

Dabei hatte es schon 1979, vor 40 Jahren, so ausgesehen, als sei der Jura-Konflikt beendet - und zwar, typisch schweizerisch, mit Hilfe von direktdemokratischen Instrumenten. Kurz zuvor hatte das Volk in einer Abstimmung ja gesagt zur Gründung eines neuen Kantons namens Jura. Das Gebiet hatte zuvor zum Kanton Bern gehört, obwohl das historisch nicht so recht passte: Der Schweizer Jura ist mehrheitlich französischsprachig und katholisch, Bern eher deutschsprachig und reformiert. Seit die Jurassier 1815 einfach dem Kanton Bern unterstellt wurden, schwelte deshalb die Unzufriedenheit.

Die Jugendorganisation Béliers verübte Sprengstoffanschläge

Mitte des 20. Jahrhunderts eskalierte die Spannung: Als einem jurassischen Berner Regierungsmitglied ein wichtiges Ministerium verweigert wurde, schlossen sich radikale Kräfte aus dem Jura zu einer separatistischen Bewegung zusammen. Insbesondere die militante Jugendorganisation "Béliers" (Widder) hielt die Schweiz in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit lauten Störaktionen, Randale bei Politikerauftritten und sogar Sprengstoffanschlägen in Atem. Schließlich gab Bern nach. Der Kanton ließ die sechs jurassischen Bezirke darüber abstimmen, ob sie einen Kanton Jura gründen wollten. Die drei nördlichen Bezirke sagten deutlich ja, die drei südlichen lehnten ab. Es folgte noch ein bundesweites Votum, und dann, 1979, die Kantonsgründung. Nur: Die südliche Hälfte des Jura gehörte weiterhin zu Bern. In den Augen der Pro-Jurassier war das Ziel also nur halb erreicht.

Und so beschäftigte die Jura-Frage die Schweiz weiter. Es gibt bis heute eine Separatistenbewegung, das Mouvement autonomiste jurassien (MAJ), und auch die "Béliers" existieren weiter, getragen von einer neuen Generation Jugendlicher, die das Ziel eines vereinigten, unabhängigen Jura ähnlich leidenschaftlich vertreten wie ihre Eltern und Großeltern.

1993 starb ein junger Separatist in der Berner Innenstadt, als der Sprengsatz verfrüht explodierte, der für das Berner Rathaus gedacht war. Da schaltete sich die Schweizer Bundesregierung ein und nahm noch einen Anlauf zur Lösung des Konflikts. Sie initiierte die interjurassische Versammlung, eine Gesprächsplattform zwischen den beiden betroffenen Kantonen, die Lösungen erarbeiten sollte. In den folgenden Jahren fanden wieder Abstimmungen statt, auf kantonaler und kommunaler Ebene. Am Status Quo änderten sie wenig, die Bewohner des Berner Jura wollten ihren Kanton mehrheitlich nicht verlassen.

In Moutier nahm die Separatistenbewegung ihren Anfang

Bis auf eine Ausnahme: Von drei bernjurassischen Gemeinden, die 2017 einzeln über ihre Zugehörigkeit abstimmten, entschied sich eine, mit hauchdünner Mehrheit, für den Jura - Moutier. Das war nicht unbedingt verwunderlich, in Moutier, einem Städtchen von etwa 7500 Einwohnern an der Kantonsgrenze, nahm die Separatistenbewegung einst ihren Anfang, hier regieren schon lange pro-jurassische Bürgermeister. Und doch gilt rund die Hälfte der Bevölkerung als berntreu.

Als die Abstimmung im Juni 2017 für den Jura ausging, reichten berntreue Kreise mehrere Beschwerden ein. Unter anderem kritisierten sie, dass die Gemeinde, die die Abstimmung organisierte, sich über ihren Bürgermeister sehr deutlich positioniert habe. Mehr als ein Jahr später, im November 2018, erklärte die Regierungsstatthalterin, Vertreterin der Berner Regierung auf Bezirksebene, die Abstimmung für ungültig. Der Aufschrei im Jura-Lager war groß - und der Konflikt, nun heruntergebrochen auf eine einzige Gemeinde, wieder so präsent wie 1979.

Als der Jura im Juni dieses Jahres sein 40-jähriges Bestehen feiert und jeder Kanton eine Fest-Delegation entsendet, entscheiden sich die Berner Regierungsvertreter, lieber zu Hause zu bleiben. Die Sicherheitsbedenken sind zu groß.

Jetzt hat das Berner Verwaltungsgericht den Entscheid der Regierungsstatthalterin bestätigt. Und Moutier? Hängt weiter zwischen den Welten. Die Separatisten sind erbost, bezeichnen das Urteil als politisch, das Gericht sei ja schließlich ein bernisches. Sie haben noch nicht entschieden, ob sie den Fall bis vors Bundesgericht ziehen oder noch einmal abstimmen lassen. Fest steht: Dieser untypische Schweizer Krimi wird weitergehen.

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