Schweiz:Zauberformel auf Prüfstand

Parlamentswahl in der Schweiz

Regula Rytz, Parteichefin der Grünen, tritt bei den Bundesratswahlen am 11. Dezember an. Im Oktober konnte ihre Partei bei der Parlamentswahl deutlich zulegen.

(Foto: Anthony Anex/dpa)

Dem Bundesrat könnte eine Reform bevorstehen.

Von Isabel Pfaff, Bern

Mehr als fünf Wochen nach den Parlamentswahlen zeichnet sich eine kleine Revolution im politischen System der Schweiz ab. Nach ihrem spektakulären Erfolg vom 20. Oktober wollen die Grünen bei den Bundesratswahlen am 11. Dezember antreten. Das hat die Fraktion am vergangenen Freitag entschieden. Als Kandidatin für das siebenköpfige Regierungsgremium stellen sie ihre Parteipräsidentin Regula Rytz auf, die am Tag zuvor ihre Bereitschaft zur Kandidatur erklärt hatte.

Bei der Wahl des Bundesrats, die immer in der ersten Session nach den Parlamentswahlen stattfindet, gilt die ungeschriebene Regel, dass Bundesräte, die ihr Amt weiter ausüben wollen, auch wiedergewählt werden. Rücktritte und Ersatzwahlen erfolgen in der Regel während der Legislatur, nicht im eigentlichen Wahljahr. Abwahlen sind nicht vorgesehen. Auch diesmal wollen alle sieben Bundesräte weitermachen. Für die Grünen bedeutet das, dass sie eine Kampfkandidatur wagen - in der Schweiz ein höchst seltenes Ereignis.

Dahinter stehen allerdings auch außergewöhnliche Zahlen: Noch nie seit der Einführung des Verhältniswahlrechts im Jahr 1919 hat eine Partei so viele Sitze im 200-köpfigen Nationalrat hinzugewonnen wie die Grünen - 17 Mandate. Auch im Ständerat, der kleinen Kammer mit insgesamt 46 Sitzen, haben die Grünen mit fünf Mandaten so viele wie noch nie geholt. Die Zugewinne haben die Ökopartei zur viertstärksten politischen Kraft gemacht. Was aus deutscher Warte wenig spektakulär klingt, ist für ein politisches System wie das schweizerische bedeutend. Denn in der Eidgenossenschaft herrscht Konkordanz: Alle wichtigen Parteien des politischen Spektrums werden in die Regierungsarbeit und damit in den Bundesrat eingebunden. Die Aufteilung der Sitze folgt seit sechzig Jahren der sogenannten Zauberformel: Je zwei Sitze für die drei stärksten Parteien, ein Sitz für die viertstärkste Kraft. Rein rechnerisch hätten die Grünen also erstmals Anspruch auf einen Sitz - nur: welche Partei muss dann zurückstecken?

Diese Frage beschäftigt die politische Schweiz seit Wochen. Denn nicht nur die Gewinne der Grünen sind historisch. Insgesamt zeigt das Wahlergebnis, dass die Zauberformel nicht mehr so richtig funktioniert: Zwar ist die rechtskonservative SVP mit mehr als 25 Prozent Wähleranteil nach wie vor stärkste Kraft, niemand macht ihr ihre zwei Sitze streitig. Doch sowohl die sozialdemokratische SP als auch die liberale FDP, die beide je zwei Bundesräte stellen, haben bei den vergangenen Wahlen verloren, sie liegen mit knapp 17 respektive 15 Prozent nur noch wenige Prozentpunkte vor den Grünen. Auf Platz fünf folgen schließlich die Christdemokraten (CVP). Die Mittepartei hat zwar nur 11,4 Prozent Wähleranteil, dafür ist sie stärkste Kraft im Ständerat. Dass die CVP zugunsten der Grünen aus dem Bundesrat fliegt, verlangt deshalb kaum jemand.

Obwohl der Fall also alles andere als klar ist, haben die Grünen bereits entschieden, auf wen ihre Kampfansage zielt: Sie wollen den FDP-Mann Ignazio Cassis aus dem Bundesrat kegeln. Der derzeitige Außenminister gilt als der schwächste Bundesrat. Ihm werden Fehler bei den Verhandlungen mit der EU vorgeworfen, linke Politiker kritisieren außerdem seine Nähe zu umstrittenen Schweizer Konzernen wie Glencore oder Nestlé. Zwar ist die Kritik an dem Tessiner Cassis parteiübergreifend zu hören, doch bislang unterstützt keine Partei offen den avisierten Traditionsbruch der Grünen. Neben der FDP hat sich auch die SVP klar gegen Rytz positioniert. Frühestens in vier Jahren könne man über einen grünen Bundesratssitz reden, teilte die Partei vor Kurzem mit - ein Verweis auf ihr eigenes Schicksal, denn auch die SVP musste mehrmals stärkste Kraft werden, bis das Parlament ihr einen zweiten Sitz zugestand. SP und Grünliberale, eigentlich die natürlichen Verbündeten der Grünen, haben noch nicht entschieden, ob sie Rytz unterstützen. Und die CVP ließ am Wochenende verlauten, dass ihre Fraktion Rytz "mehrheitlich nicht wählen" werde. Allerdings, so Parteipräsident Gerhard Pfister, wolle seine Partei eine Grundsatzdebatte über Konkordanz und Zauberformel anstoßen. Das Wahlergebnis habe gezeigt, dass die aktuelle Formel dem Wählerwillen nicht mehr gerecht werde.

Es spricht also vieles dafür, dass dem eigentümlichen politischen System der Schweiz eine Wende bevorsteht. Politiker und Medien werfen derzeit die unterschiedlichsten Ideen zur Reform des Bundesrats in den Raum, eine Erhöhung der Sitzzahl ist ebenso im Gespräch wie eine Abkehr vom Konkordanzsystem. Die meisten Beobachter gehen allerdings davon aus, dass am 11. Dezember zunächst alles beim Alten bleibt. Abwarten sollte man trotzdem. Das Schweizer Parlament hat schon ein paar Mal gezeigt, dass es, bei aller Liebe zur Stabilität, auch für Überraschungen in letzter Minute gut sein kann - etwa bei der Abwahl von SVP-Bundesrat Christoph Blocher.

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