Schweiz:Ungemach durch ein Ungetüm

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Die Atmosphäre im Verhältnis zu Europa hat sich zunehmend aufgeladen, und die EU will weniger großzügige Vereinbarungen: im Bild das Bundeshaus in Bern, Sitz des Schweizer Parlaments. (Foto: Stefan Wermuth/Reuters)

Das Verhältnis Brüssel-EU und Bern hat sich kompliziert. Indirekt spielt der Brexit mit.

Von Charlotte Theile und Thomas Kirchner, Zürich/Brüssel

Es ist noch gar nicht lange her, da waren Schweizer Politiker bei der Europäischen Union in Brüssel gern gesehene Gäste. Obgleich sich das Land schon früh gegen eine Mitgliedschaft entschieden hatte, waren die vielsprachigen, kultivierten Politiker aus der Schweiz ihren Kollegen in Brüssel nahe. Bei feierlichen Zusammenkünften war stets die Rede von gemeinsamen Werten und Zielen - und auch, wenn manchmal etwas länger verhandelt wurde: Am Schluss war man sich einig und präsentierte einen Vertrag, mit dem beide Seiten sehr zufrieden zu sein schienen. In jüngster Zeit aber funktioniert diese Gleichung nicht mehr.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist inzwischen derart schlecht auf die Schweiz zu sprechen, dass er vergangene Woche ein Treffen mit dem aktuellen Bundespräsidenten Alain Berset "aus terminlichen Gründen" ausfallen ließ. Die Ursache für all den Ärger liegt in einem bürokratischen Ungetüm, das seit mehr als vier Jahren zwischen Brüssel und Bern verhandelt wird.

Schon der Name ist kompliziert: Institutionelles Rahmenabkommen. Im Kern geht es der EU, die ein solches Abkommen gern längst abgeschlossen hätte, darum, die vielfältigen Verträge mit der Schweiz in einem Rahmenvertrag zu bündeln. Das klingt wie eine Formalie - hat aber in der Schweiz, die stets um ihre Unabhängigkeit fürchtet, Ängste geweckt. Allen voran die rechte SVP macht seit Jahren Stimmung gegen den "Knebelvertrag", sie bezeichnet ihn als De-facto-Beitritt.

Die Regierung in Bern dagegen scheint dauernd neue, technische Probleme zu finden: Mal sind es die Lohnschutzmaßnahmen, die zum Beispiel Handwerker aus Deutschland dazu zwingen, Dienstleistungen in der Schweiz mindestens acht Tage vorher genehmigen zu lassen; mal ist es eine juristische Initiative, welche die Schweiz aus der Europäischen Menschrechtskonvention lösen möchte. Seit einigen Tagen glaubt man sogar, in einer Sozialhilfefrist für EU-Bürger in der Schweiz den wesentlichen Knackpunkt erkannt zu haben. Vorher war von dieser Regelung nie die Rede. In Brüssel ist über die Jahre der Eindruck entstanden: Bern will das Abkommen mit bürokratischen Tricks verhindern.

In der vergangenen Woche stieg die EU-Kommission aus den Verhandlungen aus. Weitere Gespräche auf technischer Ebene ergäben keinen Sinn, erklärte sie. Die Kommission werde nun "auf politischer Ebene" über das weitere Vorgehen beraten. In Junckers Umfeld ist man genervt von der Berner Verhandlungsführung. Es sei seltsam, dass auf einmal die Regeln zur Freizügigkeit infrage gestellt würden, heißt es. "Das sind Kernprinzipien des Binnenmarkts", das habe man auch dem damaligen britischen Premier David Cameron vor der Brexit-Abstimmung nicht zugestanden. Juncker sei der Schweiz schon beim Thema Schiedsgerichtsbarkeit entgegengekommen. "Jetzt müssen sich die Schweizer auch mal flexibel zeigen", sagte eine Sprecherin.

Das Problem in dieser Beziehung ähnelt jenem, das die Briten haben: Die EU sitzt am längeren Hebel. Und sie hat Druckmittel: Vor einem Jahr machte die Kommission klar, dass sie die Gleichwertigkeit der Schweizer Börsenregulierung nur für ein Jahr anerkenne. Eine Verlängerung gebe es erst bei ausreichendem Fortschritt in den Verhandlungen. Und der ist nicht in Sicht. Gut möglich also, dass die Schweizer Banker die Ersten sind, die direkt unter den schwierigen Verhandlungen leiden. Doch auch andere Branchen fürchten Konsequenzen: So könnte es auch auf dem Strommarkt, in der Stahlindustrie oder in der Forschung zu einem Abbruch der bis dahin guten Beziehungen kommen.

Mangelt es den Eidgenossen am Willen zur sachlichen Auseinandersetzung?

Dass die Schweiz auf gute Beziehungen zu ihren Nachbarn angewiesen ist, steht außer Frage. Was passiert, wenn diese Beziehungen infrage gestellt werden, ist für viele Schweizer Stoff für Albträume. Dass Brüssel überhaupt mit solchen Szenarien droht, markiert einen grundsätzlichen Bruch. Aus europäischer Sicht hat die Schweiz bisher einen äußerst vorteilhaften Deal erhalten. Dank bilateraler Verträge profitiert sie von großen Teilen des Binnenmarkts, muss das EU-Recht nicht automatisch übernehmen und sich auch keiner Schiedsgerichtsbarkeit fügen. Ein Grund dafür: Die EU ging lange davon aus, dass die Schweizer über kurz oder lang die Vorteile der Union erkennen und doch noch beitreten. Mit dieser Großzügigkeit muss Schluss sein, glaubt man in Brüssel, auch um gegenüber den Briten und anderen Abweichlern ein Zeichen zu setzen.

In der Schweiz hat man derweil erkannt, dass in Brüssel inzwischen ein anderer Wind weht als noch vor wenigen Jahren. Der Bundesrat steht zunehmend in der Kritik, der zuständige Außenminister Ignazio Cassis verliert an Beliebtheit. Selbst die konservative Neue Zürcher Zeitung kommt zu dem Schluss, es mangle in Bern am "politischen Willen zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Materie".

So oder so: Die nächste Frist läuft ab. Die Entscheidung, wie es mit der Schweizer Börse vom kommenden Jahr an weitergehen soll, wird in Brüssel in den kommenden Wochen getroffen werden. Wenn es bis dahin keinen Durchbruch gibt, dürfte es in Bern wirklich richtig heikel werden

© SZ vom 26.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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