Als die Schweizer im Frühjahr 2014 abstimmten, ob sie die Zuwanderung aus der Europäischen Union begrenzen wollen, wussten sie, dass es Konflikte geben könnte. Dass sich das Land aber zweieinhalb Jahre später im Zentrum einer Auseinandersetzung um den Fortbestand der EU befinden würde, konnte niemand absehen.
Heute ist klar: Der knappe Volksentscheid vom 9. Februar 2014, umzusetzen bis zum 9. Februar 2017, zielt ins Herz der EU. Flüchtlingskrise, Brexit und zunehmend lautere Forderungen nach einer Einschränkung der Personenfreizügigkeit lassen das Schweizer Votum zum Präzedenzfall werden. Wenn die Schweizer ihren Volksentscheid umsetzen, der die Steuerung der Zuwanderung mit Kontingenten vorsieht, werden in Brüssel weitere Mitglieder des Binnenmarktes anklopfen und das Gleiche fordern. Schon deshalb haben die europäischen Institutionen Bern von Anfang an signalisiert, in dieser Frage zu keinerlei Zugeständnissen bereit zu sein.
So fanden in den vergangenen Jahren so gut wie gar keine Gespräche statt. Am Montag nun besuchte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Universität Zürich. Ein feierliches Jubiläum, 70 Jahre zuvor hatte Winston Churchill an dieser Stelle von den "Vereinigten Staaten von Europa" gesprochen und dem vom Krieg verwüsteten Kontinent neue Hoffnung gegeben: "Let Europe arise!"
Juncker hingegen sprach von "Polykrisen" der EU und "existenziellen Krisen". Weiterentwicklung oder Ende, viel mehr bleibe nicht. Zur Schweiz und ihrem Volksentscheid sagte er jedoch wenig. Zumindest fand die Lösung sein Wohlwollen, die von der Schweizer Politik in den vergangenen Wochen präsentiert wurde. Wenn Schweizer Unternehmen offene Stellen künftig melden müssen, sei das kein Verstoß gegen die Freizügigkeit, hielt Juncker fest.
Der Vorschlag ist als "Inländervorrang light" bekannt geworden
Der als "Inländervorrang light" bekannt gewordene Vorschlag schafft das scheinbar Unmögliche: Er löst den Konflikt mit der EU. Er hat allerdings den Schönheitsfehler, den vom Volk entschiedenen Verfassungsartikel nicht umzusetzen. Dort heißt es schließlich: Die Schweiz steuert die Zuwanderung "eigenständig", der Aufenthalt von Ausländern werde durch "Höchstzahlen und Kontingente" begrenzt.
Es handle sich um "eine Null-Lösung", heißt es daher aus der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP). Auch der Politiker Kurt Fluri von der liberalen FDP, der als Architekt des Vorschlags gilt, gibt zu, dass das Volk eigentlich etwas anderes beschlossen hat. Denn zur Umsetzung will er keine wirkliche Zuwanderungsbegrenzung bringen, sondern eine Meldepflicht für offene Stellen, die Einheimischen bei der Bewerbung einen Vorsprung vor Ausländern geben würde. SVP-Politiker, die das als Augenwischerei und Betrug am Volkswillen geißeln, bekommen in diesen Tagen noch mehr Applaus als sonst.
Am Mittwoch befasst sich der Nationalrat mit dem Thema. Und obgleich Anfang des Monats alle Parteien außer der SVP für den "Inländervorrang light" gestimmt hatten, könnte die Diskussion nun anders verlaufen. Viele Politiker fühlen sich sowohl den internationalen Verträgen, als auch dem Volksentscheid verpflichtet. Dessen Ergebnis war 2014 äußerst knapp: Nur 50,3 Prozent der Abstimmenden waren damals für die Initiative.
Die Schweizer stört die Art, wie die Lösung zustande kam
Juristisch ist es möglich, das Volksvotum zu ignorieren. Die Schweiz hat kein Verfassungsgericht, der Verfassungsartikel zur Steuerung der Zuwanderung wäre nicht der erste, der nicht ganz wortgetreu umgesetzt würde. Das Problem liegt für viele Schweizer im Zustandekommen dieser Lösung. Man habe sich von der EU erpressen lassen, im vorauseilenden Gehorsam geopfert, was die Bürger beschlossen hätten - so klingt es in Kommentaren, Leserbriefen, an Stammtischen.
FDP-Politiker Kurt Fluri hält dem ökonomische Argumente entgegen: Würde man die Personenfreizügigkeit verletzen, wären die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU betroffen, die Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Verkehr regeln. Sie genießen in der Schweiz hohes Ansehen, stehen für guten Marktzugang und geschickte Diplomatie. Doch solche maßgeschneiderte Lösungen sind in den letzten Jahren in die Ferne gerückt. Die EU ist nicht länger bereit, mit Bern Sonderkonditionen auszuhandeln.
Interessant ist unterdessen das Verhalten der rechtskonservativen SVP, die die Zuwanderungsinitiative 2014 durchgesetzt hatte. Sie beklagt den aktuellen Vorschlag natürlich als Missachtung des Volkswillens - verzichtet ihrerseits aber auf ein Referendum oder andere Maßnahmen zur wortgetreuen Umsetzung des von ihr erdachten Verfassungsartikels. Direkt verantwortlich für die Kündigung der bilateralen Verträge mit der EU will wohl auch sie nicht sein.