Schweiz:Wie viel Mobilität darf’s denn sein?

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Am Sonntag entscheiden die Schweizer Bürger: In Basel werben Plakate für und gegen den Autobahnausbau. (Foto: Georgios Kefalas/dpa)

Die Berner Regierung will einige Abschnitte der überlasteten Autobahnen erweitern. Anlass für eine hitzige Debatte über den Verkehr der Zukunft.

Von Thomas Kirchner

Es ist das Faszinierende an der direkten Demokratie, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, dass sie fast jedes gesellschaftlich relevante Thema irgendwann einmal in den Fokus rückt. So haben die Bürgerinnen und Bürger in der jüngeren Vergangenheit über den Bau von Zweitwohnungen, die Wehrpflicht, den Nutzen von Homöopathie und die Gefahr synthetischer Pestizide debattieren und abstimmen dürfen. Auch über diverse Infrastrukturprojekte. Seit Jahrzehnten aber nicht mehr über den Verkehr als solchen, die Frage also, wie viel und welche Art von Mobilität sich die Menschen in dem beengten bergigen Land wünschen – und wie viel die Umwelt verträgt.

Das wird jetzt nachgeholt. Den Anlass bietet die Absicht des Bundesrates, der Regierung in Bern, das überlastete Autobahnnetz an sechs neuralgischen Stellen auszubauen. Im Raum Bern und zwischen Nyon und Le Vengeron in der Romandie soll die A 1 um zwei Spuren erweitert werden, in Basel, Schaffhausen und St. Gallen sind neue Tunnel geplant.

Geplant und bald darauf gebaut wurde das Netz von „Nationalstrassen“, wie die Autobahnen in der Schweiz genannt werden, in den 1960er-Jahren. Seither kamen, in dem Maße, wie der Verkehr wuchs, Stück um Stück Erweiterungen hinzu. Üblicherweise werden sie alle vier Jahre von der Regierung beantragt und vom Parlament gebilligt. Gegen den jüngsten Beschluss haben mehrere Umwelt- und Verkehrsorganisationen mit Unterstützung von Grünen und Sozialdemokraten das Referendum ergriffen. Abgestimmt wird an diesem Sonntag.

Das Problem der CO₂-Emissionen erledige sich ab 2040 durch E-Autos, sagt der Minister

Offensichtlich besteht Redebedarf. Die Debatte verlief intensiv und emotional. Pro und kontra verteilen sich entlang der üblichen Links-rechts-Trennung. Die Gegner argumentieren, die Pläne seien überdimensioniert. Der Ausbau führe zwar vorübergehend zu einer Entlastung. Langfristig pendele sich aber der alte Zustand wieder ein, und es staue sich erneut. Der Straßenverkehr trage erheblich bei zu den CO₂-Emissionen, aber auch zur Lärmbelastung. Außerdem gehe durch den Autobahnbau wertvolle Natur und Kulturland verloren. Statt des Autoverkehrs solle die Politik besser Bahnen, Busse und Fahrradverkehr fördern.

Auf der anderen Seite stehen die bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände. Laut Verkehrsminister Albert Rösti von der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei sind die Autobahnen zwar effiziente „Schlagadern“ der Mobilität. Sie machten nur drei Prozent des ganzen Straßennetzes aus, nähmen aber 41 Prozent aller privaten Fahrten und 70 Prozent des Straßengütertransports auf. Trotzdem habe sich der Verkehr auf den Autobahnen seit 1990 mehr als verdoppelt. Die Folge seien Staus, die das Land jährlich Milliarden kosteten. Das Problem mit den Schadstoffemissionen werde sich 2040, wenn die neuen Abschnitte fertig seien, durch die zunehmende E-Mobilität von selbst erledigen.

Eine der alten Fragen: Produzieren mehr Straßen auch mehr Verkehr?

Warum hat der Verkehr so stark zugenommen? Liegt es – auch – an den neuen Straßen, die gebaut wurden, wie manche behaupten? Rösti weist das zurück. Grund seien das Wachstum der Bevölkerung von knapp sechs Millionen in den Sechzigerjahren auf heute neun Millionen sowie gestiegene Mobilitätsbedürfnisse. Als Beispiel führt Rösti die früher chronisch verstopfte Straße an, die am Walensee vorbeiführt. Seit ihrem Ausbau Ende der Achtzigerjahre sei es dort nie wieder zu Dauerstau gekommen.

Auch Jürg Röthlisberger vom Bundesamt für Straßen weist die These der Gegner zurück. Die erweiterten Straßen würden keinen zusätzlichen Verkehr produzieren, „das passiert nicht, das zeigen unsere Berechnungen“. Trotz großer Investitionen in das Bahnnetz bleibe der Individualverkehr ein wichtiger Faktor. Ziel müsse es daher sein, den Ausweichverkehr, der zunehmend Landstraßen und Dörfer verstopfe, auf die Autobahnen zurückzuführen, wo er hingehöre.

Warum aber, fragen Kritiker, haben vier von sechs Gemeinden bei Bern, die zum Ausbau in ihrer Nachbarschaft befragt wurden, Einspruch gegen die Pläne erhoben, weil sie eine Verschlechterung der Lebensqualität durch mehr Fahrzeuge befürchten? Warum kosten die Bauarbeiten vermutlich sieben Milliarden Franken statt fünf, wie die Regierung behauptet? Warum warnt sogar das Bundesamt für Raumentwicklung, dass die „externen“ Folgekosten der Mobilität viel höher sind als angenommen? Und warum sagt sogar der Großspediteur Nils Planzer, dass man den Verkehr nicht attraktiver machen, sondern verteuern müsse, wenn man ihn eindämmen wolle?

Dringend nötig sei nun eine „Gesamtschau auf das ganze System“, sagte der Zürcher Mobilitätsforscher Kay Axhausen dem Onlinemagazin Republik. „Wir müssen bestimmen, welche Orte der Schweiz in welcher Zeit und mit welchen Verkehrs­mitteln erreichbar sein sollen.“ Zu lange sei Politik vor allem für das Auto gemacht worden. Nun brauche es „neue Ansätze“, etwa öffentliche E-Bike-Systeme oder „Mobility Pricing“, dynamische Tarife für gewisse Straßenabschnitte, wie sie in London oder Stockholm schon erhoben werden.

Die Abstimmung, das ist sicher, wird eng ausfallen. Waren die Autobahngegner zunächst in der Minderheit, haben sie im Laufe der Debatte stark aufgeholt und lagen in Umfragen zuletzt sogar knapp vorn.

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