Süddeutsche Zeitung

Schweiz:Laubträume

Eine interaktive Karte zeigt, wo sich Blätter am schönsten verfärben.

Von Lea Hampel

Das Verhältnis des Menschen zu Herbstblättern ist ein ambivalentes: Für Wesen unter einem Meter Körpergröße gibt es wenig Schöneres, als durch einen Laubhaufen zu rennen, für Menschen mit Immobilien sind die Blätter dagegen oft Ärgernis auf Gehweg und Gartenwiese. Wenn man also das Wort Laubtracker hört, mag mancher hierzulande denken: Ha, wissen, wann die Blätter fallen, damit man sie schneller entfernen kann! Doch weit gefehlt: Eine Schweizer Webseite zeigt neuerdings an, wo das Laub am schönsten verwelkt. Denn, darauf können sich große wie kleine Menschen meist einigen: Am schönsten ist das bunte Blatt, wenn es noch am Zweig hängt.

Der Laubtracker, heißt es bei der Agentur für die Vermarktung des Landes, zeige "die aktuelle sowie die prognostizierte Blattverfärbung in der ganzen Schweiz" - auf einer interaktiven digitalen Karte. Mit einem Schieberegler kann man das Datum wählen und anhand der Färbung in Grün, Gelb, Orange und Rot sehen, dass beispielsweise am 3. Oktober erste gelbe Blätter nördlich von Genf auftauchen, schon Mitte Oktober die Region südlich von Ascona rot strahlen dürfte und Anfang November in Davos die Blätter wieder braun sind. Grundlage ist die Färbung der Baumarten Ahorn, Birken, Buchen und Lärchen in den Vorjahren sowie aktuelle Daten etwa zu Regenmenge und Temperaturen. Mittelfristig hofft man, "dank künstlicher Intelligenz ein lernfähiges Laubmodell für die ganze Schweiz" zu erstellen.

Der Indian Summer war als eigens zu bereisendes Naturphänomen bisher vor allem aus Nordamerika bekannt. Er hat die dortige Popmusik inspiriert ("Indian summer, Abilene, you were new in town, I was nineteen", Kuschelrock 11, CD 2, Track 5). Aber auch in der Schweiz wurde ihm kulturell gehuldigt, wenn auch weniger countryromantisch, mit dem Herbstlied "Bunt sind schon die Wälder" von Lyriker Johann Gaudenz von Salis-Seewis. Dennoch: Weder Altweibersommer noch goldener Herbst klangen nur ansatzweise so nach einsamen Straßen, Freiheit und Abenteuer wie das englische "Indian Summer".

Die Rückbesinnung auf den Urlaub daheim, die temporäre Unstillbarkeit des Fernwehs, aber auch die Verzweiflung der Branche dürfte nun die Touristik bewogen haben, das Lockmittel Laub zu erdenken. Wobei "erdenken" zu weit greift. Erfunden haben die Schweizer die professionelle Dokumentation des Herbstlaubs nicht. Wer war's? Die Nordamerikaner. Dort gibt es den sogenannten Foliage Report und ein Infotelefon. Ähnliches ist aus Japan bekannt.

Das hat in Nordamerika neben der Vermarktung pragmatische Gründe: Man möchte Staus und Menschenaufläufe verhindern, damit der Tourist den Wald vor lauter Menschen noch sieht. Vor allem in Pandemie-Zeiten ein nicht ganz unbedeutender Aspekt: Wenn nun alle den bunten Blättern hinterherfahren, reist möglicherweise auch das Virus mit. Viel sinnvoller wäre solch eine Karte vermutlich, wenn ihre Daten mit der Stau- und der Corona-App kombinierbar wären. Der fromme Wunsch der Laubtracker-Vermarkter jedenfalls lautet: "So wird der Herbst einfacher plan- und erlebbar." Wenn dafür eine digitale Karte reichen würde, es wäre wunderbar.

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Quelle:
SZ vom 15.09.2020
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