Süddeutsche Zeitung

Protest:"Klimaseniorinnen" setzen die Schweizer Politik unter Druck

Lesezeit: 5 min

2000 Frauen, im Durchschnitt 73 Jahre alt, klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Vorwurf: Die Regierung in Bern tue zu wenig, um sie vor den Folgen der Klimakrise zu schützen. Ein juristisch kompliziertes, aber nicht aussichtsloses Unterfangen.

Von Wolfgang Janisch und Isabel Pfaff

Rosmarie Wydler-Wälti sitzt auf ihrem Sofa in Basel, eine zerbrechlich wirkende Frau mit kinnlangem grauen Haar. Sie sieht nun wirklich nicht so aus, als müsse sich irgendjemand vor ihr fürchten. Doch ein erster Eindruck kann bekanntlich auch täuschen. Rosmarie Wydler-Wälti ist 72 Jahre alt, ehemalige Kindergärtnerin und Elternberaterin, vierfache Mutter und Großmutter von acht Enkeln. Sie habe im vergangenen Jahr viel abgenommen, erzählt sie: wahrscheinlich die Hafermilch im Müsli, die sie statt der Kuhmilch nun benutze; auch auf Fleisch verzichtet sie mittlerweile fast komplett. Fliegen kommt ohnehin nicht infrage, ein Auto hat ihre Familie noch nie besessen.

Wydler-Wälti ist Klimaaktivistin, und gerade im Seniorenalter bringt das gewisse Herausforderungen mit sich. Neben ihrem Gewichtsverlust berichtet Wydler-Wälti auch von Rücken- und Schulterschmerzen. Die bekommen viele ihrer Mitstreiterinnen regelmäßig, wenn sie auf Demos zu lange die Transparente hochhalten. "Und wir sind kleiner als die meisten Männer, keiner sieht uns mit unseren Plakaten."

"Wir klagen für unsere Gesundheit, aber wenn wir gewinnen, gewinnen alle."

Dabei sind es genau diese Eigenschaften, die Tatsache, dass sie eine Frau ist und ein gewisses Alter erreicht hat, die Rosmarie Wydler-Wälti zu einer der derzeit aussichtsreichsten Kämpferinnen gegen die Klimakrise gemacht haben - und zu einer der Frauen, die die staatlichen Institutionen ihres Landes das Fürchten lehren könnten. Wydler-Wälti ist Co-Präsidentin des Schweizer Vereins "Klimaseniorinnen". Mehr als 2000 Frauen, im Durchschnitt 73 Jahre alt, haben sich unter dem Namen zusammengeschlossen, um die Schweizer Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu verklagen. Ihr Staat, so der zentrale Vorwurf, beschütze sie nicht genügend vor den Auswirkungen der Klimakrise. "Obwohl wir ältere Frauen in besonderem Maß davon betroffen sind!", sagt Wydler-Wälti.

Tatsächlich sind Hitzewellen für ältere Menschen besonders gefährlich, das belegen Studien der Weltgesundheitsorganisation WHO, aber auch Veröffentlichungen der Schweizer Bundesämter für Gesundheit und Umwelt. Je älter Menschen werden, desto schlechter können sie ihre Körpertemperatur regulieren, sie schwitzen weniger und haben kaum Durstgefühl. Die Folge können Dehydrierung, Hitzekrämpfe oder ein lebensgefährlicher Hitzschlag sein. Und offenbar ist die Gefahr für Frauen noch einmal höher: Laut einer WHO-Studie starben im Hitzesommer 2003 in Europa mehr Frauen als Männer.

Das ist die Grundlage ihrer Klage. Die Klimaseniorinnen machen geltend, dass ihr Recht auf Leben und Gesundheit, verankert sowohl in der Schweizer Verfassung als auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention, durch die unzureichenden Klimaziele ihres Landes verletzt werde. "Wir klagen für unsere Gesundheit", sagt Wydler-Wälti, "aber wenn wir gewinnen, gewinnen alle."

Die Idee dieser Klimaklage stammt von Greenpeace Schweiz. Um überhaupt in der Schweiz klagen zu können, muss man besonders stark und akut von einem Missstand betroffen sein. "Wir haben deshalb die Gruppe herausgefiltert, die heute am stärksten von der Klimakrise betroffen ist - und das sind Frauen ab 75", erklärt Cordelia Bähr, die Anwältin der Klimaseniorinnen.

Greenpeace suchte dann Seniorinnen, die die Beschwerde führen würden, und wandte sich an die "Grossmütterrevolution": eine Art Netzwerk engagierter älterer Schweizerinnen, zu denen auch Rosmarie Wydler-Wälti gehört. "Ich war sofort dabei", erzählt die Baslerin. So gründeten fast vier Dutzend Frauen 2016 den bis heute von Greenpeace unterstützten Verein der Klimaseniorinnen.

Zuerst wandten sie sich mit ihrer Beschwerde an die Schweizer Regierung, dann ans Schweizer Bundesverwaltungsgericht, dann ans Bundesgericht. Überall wies man sie ab. Mal mit dem Argument, dass Frauen ab 75 nicht stärker als die Allgemeinheit von der Klimakrise betroffen seien. Mal mit der These, dass die Klimaerwärmung zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht weit genug vorangeschritten sei, um eine besondere Betroffenheit geltend zu machen.

Im Herbst 2020 zogen die Frauen dann vor den EGMR nach Straßburg. Der nahm ihre Klage im März 2021 an und verlieh ihr sogar hohe Priorität. Allerdings: Formal betrachtet ist noch nicht entschieden, ob der Gerichtshof die Beschwerde überhaupt inhaltlich prüfen wird. Denn wie die Urteile in der Schweiz zeigen, ist es gar nicht so leicht, in diesem Fall die individuelle Klagebefugnis zu begründen. "Die Beschwerdeführer müssen nachweisen, dass sie unmittelbar von einer Verletzung ihrer Rechte betroffen sind", sagte Helen Keller, früher selbst Richterin am Gerichtshof, kürzlich bei einem Vortrag. "Der allgemeine Charakter des Klimawandels stellt eine hohe prozessuale Hürde dar."

Eine hohe, aber überwindbare Hürde, fügte Keller hinzu. Womöglich trete der Gerichtshof nur bei Menschen ins Verfahren ein, die besonders stark unter dem Klimawandel leiden. Zum Beispiel, weil ihre Region härter getroffen ist als eine andere, oder eben, weil sie wegen Alter oder Krankheit unter den Hitzesommern leiden. Die Seniorinnen haben insofern also gute Karten.

Ohnehin hat der Gerichtshof bereits Sensibilität für Klimaklagen signalisiert. Vergangenes Jahr priorisierte er eine Klage junger Menschen aus Portugal, und Gerichtspräsident Róbert Spanó wies ausdrücklich auf die "neuen rechtlichen Fragen" solcher Verfahren hin. Und Ende April ist dann der Fall der Klimaseniorinnen sogar an die Große Kammer überwiesen worden, also nach ganz oben. Die Seniorinnen gehen davon aus, dass der EGMR in den kommenden Monaten eine öffentliche Verhandlung ansetzen wird.

Hinzu kommt: Klimaklagen mögen in Straßburg neu sein, der Umweltschutz ist es nicht. 2014 zum Beispiel hat der Gerichtshof über eine Klage wegen überhöhter Asbestbelastung in einem Betrieb in Malta entschieden. Der Staat wusste frühzeitig Bescheid, hat aber die Arbeitnehmer nicht über die Risiken informiert. Die Menschenrechtskonvention sehe "eine positive Verpflichtung der Staaten vor, angemessene Schritte zu setzen, um das Leben jener zu schützen, die sich in seiner Hoheitsgewalt befinden". Das gelte auch für die Risiken industrieller Aktivitäten, urteilte der Gerichtshof. Das sind juristische Bausteine, die auch in ein Klimaschutzurteil passen würden.

Sollten die Klimaklagen erfolgreich sein, dann hätte dies Folgen weit über die EU hinaus. Denn der Gerichtshof ist eine Institution des Europarats mit 46 Mitgliedstaaten, darunter wichtige Nicht-EU-Staaten wie die Türkei, Großbritannien und eben die Schweiz, die nicht vom ambitionierten Fit-for-55-Programm der EU gepusht werden. "Wir hätten damit in Europa eine klarere Verankerung der Schutzpflicht vor den Folgen des Klimawandels", sagt Rechtsanwältin Roda Verheyen, die selbst viele Klimaschutzklagen ausgearbeitet hat. "Die Debatte wäre eröffnet, welches Land wie viel Kohlendioxidausstoß reduzieren muss." Zudem könnten die Vorgaben aus Straßburg auch in Deutschland ins nationale Recht einsickern, etwa bei der gerichtlichen Prüfung klimarelevanter Vorhaben.

In der Schweiz könnte ein Referendum jedes noch so gut gemeinte Gesetz zu Fall bringen

In der Schweiz selbst ist die Sache wegen der direktdemokratischen Möglichkeiten komplizierter. Zwar muss die Regierung als Unterzeichnerin der Europäischen Menschenrechtskonvention die Urteile des EGMR umsetzen. Aber gegen jedes Gesetz können Schweizerinnen und Schweizer ein Referendum organisieren. Sie müssen dafür lediglich 50 000 Unterschriften zusammenbekommen. Im Juni 2021 wurde auf diese Weise das neue CO₂-Gesetz zu Fall gebracht, das Regierung und Parlament auf den Weg gebracht hatten, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Nun arbeitet die Regierung an einem neuen Anlauf, aber allzu ambitioniert dürfte dieser angesichts der Niederlage beim Referendum nicht ausfallen.

Eine Lösung für dieses schweizspezifische Dilemma haben auch Rosemarie Wydler-Wälti, die Klimaseniorin, und ihre Anwältin Cordelia Bähr nicht parat. Bähr geht trotzdem davon aus, dass die Schweiz den Entscheid des Gerichts pflichtgemäß umsetzen wird. Und Wydler-Wälti hofft, dass ihr Land im Fall eines Siegs vor Gericht international so stark unter Druck gerät, dass die Bevölkerung letztlich mitziehen wird.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5584480
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.